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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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musst mich nicht besuchen. Lieb von dir, dass du nach meinen Blumen gesehen hast. Du hast wahrhaftig genug getan.»
    Mitch gab ein leises Schnauben von sich – die Vorstellung, jemals in irgendeiner Hinsicht genug getan zu haben, erschien ihm in seiner momentanen Lage völlig absurd –, doch dann nickte er. «Ich wollte mich nicht aufdrängen.»
    «Ach, Unsinn», erwiderte sie. «Ich bin dir wirklich dankbar. Aber du hast nun wirklich genug für mich getan.»
    Womit sie ihn mehr oder minder durch die Blume aufforderte, doch bitte zu gehen. Trotzdem hielt ihn irgendetwas hier fest – ihr matter Blick, vielleicht auch sein Bedürfnis, etwas für sie zu tun. «Wo sind deine Eltern?»
    Sie seufzte. «Mein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Und meine Mutter ist zu gebrechlich, um herzukommen.»
    «Das tut mir leid.»
    Ihr Kopf bewegte sich leicht, als sie kaum merklich die Schultern hob. Sie war sichtlich erschöpft; ihre Lider flatterten, und ihre Hände lagen mit den Handflächen nach oben kraftlos neben ihr. Er beugte sich zu ihr, im Begriff, ihren Arm zu berühren, um ihr etwasvon seiner Stärke abzugeben. Sie konnte sie nur allzu gut gebrauchen.
    «Ich habe momentan nicht viel zu tun», sagte er. «Ich helfe dir gern. Um der alten Zeiten willen.»
    «Das ist kein Grund», sagte sie in sprödem Tonfall – ein untrügliches Zeichen, dass es zwischen ihnen nicht einfacher geworden war.

    Offenbar hatte sie es sich schließlich doch anders überlegt, da sie etwa eine Woche später abends bei ihm anrief. Ihre Stimme klang leise, aber entschlossen.
    «Ich bin’s, Grace. Sie haben mich entlassen.»
    «Gratuliere! Und wie geht’s dir?»
    «Ich habe überlebt», sagte sie. «Tja, ich wollte auf dein Angebot zurückkommen.»
    «Gern», sagte er, und er meinte es auch so.
    «Azra weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht, und zwei andere Freundinnen haben mich hängen lassen. Könntest du mir vielleicht bei ein paar Besorgungen helfen und Sarah zur Schule bringen und wieder abholen?»
    «Selbstverständlich.»
    Eine Pause entstand. «Das freut mich», sagte sie verlegen.
    «Halb so wild, Grace. Überhaupt kein Problem.»
    Am nächsten Tag sah er bei ihr vorbei. Als er hereinkam, lag sie auf dem Sofa. Sie trug einen grauen Pullover; über ihren Beinen lag eine dicke Wolldecke, unter der sich der Gips abzeichnete. Sie sah besser aus als im Krankenhaus, aber immer noch ziemlich mitgenommen. Auf einem Beistelltisch stand alles, was sie benötigte: ein Glas Wasser, eine Schachtel mit Papiertaschentüchern und verschiedenste Pillenpackungen und Tablettenfläschchen.
    «Vielen Dank noch mal», sagte sie.
    «Hör auf, dich dauernd zu bedanken», erwiderte Mitch. «Bitte.»
    Sie verzog das Gesicht, als sei ihr verletzter Stolz ebenso schmerzhaft wie ihre Blessuren. Als er sich etwas genauer umblickte, fiel ihm auf, dass sie die Sitzgruppe in ihren Lieblingsfarben Blau und Blassgrün hatte beziehen lassen, und einige der Aquarelle an den Wänden kannte er von früher. Bei einer Auseinandersetzung gegen Ende ihrer Ehe hatte er ihr vorgeworfen, keinen Geschmack zu haben; jetzt aber empfand er die Atmosphäre als beruhigend und fühlte sich seltsamerweise irgendwie zu Hause. Es war ein stiller Ort, still wie ein Teich.
    «Sarah ist bei einer Freundin», sagte sie. «Hier, ich habe eine Liste gemacht.»
    Auf einem Notizblock – schon als Studentin hatte sie immer diese Blöcke benutzt – hatte sie alles aufgeschrieben, was anstand: die Wäsche, die gewaschen werden musste; die Einkäufe – selbst die Markennamen hatte sie notiert; Sarahs Stundenplan, wann sie wohin gebracht und wann wieder abgeholt werden musste; die Dinge, die Sarah gern zu Mittag aß und was er sonst im Umgang mit ihr beachten sollte – alles notiert in Grace’ runder, akkurater Handschrift.
    Ihr Tonfall war strikt geschäftlich. «Ich erkläre dir gleich, wo die Waschmaschinen stehen», sagte sie. «Und das macht dir wirklich keine Umstände?»
    «Ach, was», gab er zurück. «Ich bin froh, dass ich etwas zu tun habe.»
    Was irgendwie kläglich klang, so als würde er tatsächlich nur Däumchen drehen, obwohl das natürlich nicht der Wahrheit entsprach. Nun ja, vielleicht ein bisschen. Zunächst brachte er den Haushalt auf Vordermann, dann fuhr er zu Loblaws; anschließend verstaute er die eingekauften Lebensmittel im Kühlschrank und in den Küchenschränken. Währenddessen lag Grace auf der Couch und sah fern, nickte aber immer wieder ein. Als er

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