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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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fester Bestandteil ihrer Persönlichkeit. Sie war diejenige, die auf Partys stets von anderen belagert wurde und der ihre Freundinnen am Telefon das Herz ausschütteten. Am Flughafen oder im Supermarkt erzählten ihr wildfremde Menschen die privatestenDinge, und sie beklagte sich nie, wirkte nie frustriert oder gelangweilt. Sie war wie geschaffen für ihren Beruf; andere Therapeuten konnten ihr nicht das Wasser reichen, er selbst eingeschlossen.
    «Das ist eine lange Geschichte», sagte sie ausweichend.
    Sie warf einen Blick hinter ihn, und als er sich umwandte, sah er, wie ein kleines Mädchen mit weit ausholenden Beinen und schwingenden Armen wie ein kleiner Soldat in das Krankenzimmer marschierte, dicht gefolgt von Azra. Dann erblickte sie Mitch, hielt abrupt inne und legte den Kopf schief. Er schätzte, dass sie etwa neun Jahre alt war.
    «Keine Angst, komm her», sagte Grace liebevoll.
    Mitch trat beiseite, als das Mädchen zu seiner Mutter trat und sie sanft mit den Fingerspitzen berührte, als könnte sie sonst zerbrechen.
    Grace lächelte sie an. «Das kitzelt», sagte sie.
    Sarah lächelte ebenfalls und ließ die Finger wie kleine Mäuse über den Arm ihrer Mutter huschen.
    «Lass gut sein, Kleines», sagte Grace. «Sag erst mal Hallo zu meinem Freund Mitch.»
    «Hi», sagte das Mädchen, ohne ihn anzusehen.
    «Hi, Sarah. Na, wie geht’s?» Da Kinder nicht sehr empfänglich für Small Talk sind, war das keine besonders gute Frage. Die Kleine antwortete zwar nicht, schien sich aber auch nicht an ihm zu stören. Seine Anwesenheit gehörte einfach zu all den anderen Dingen, die sie nicht richtig verstand – dem seltsamen Ort, an dem sich ihre Mutter befand, den Ärzten, dem Umstand, dass Azra sich vorübergehend um sie kümmerte.
    «Na, was hast du heute Tolles erlebt?», fragte Grace.
    «Azra hat mir ein Snickers gekauft.»
    Azra lachte schuldbewusst. «Bitte entschuldige, Grace. Du weißt, dass ich ihr normalerweise keine Schokolade kaufe.»
    «Ist doch nicht schlimm», sagte Grace, aber sie klang nicht sehr überzeugend.
    Die Patientin im anderen Bett schien eingeschlafen zu sein, und Mitch schaltete den Fernseher aus. In der plötzlichen Stille erklang Sarahs hohe Stimme hell und klar, während sie am Bett ihrer Mutter stand und von ihrem Tag erzählte – was sie gespielt hatte, von einem Jungen, der sie immer wieder nervte, irgendetwas von ihrer Lehrerin und einem Käfer, den sie in der Pause gesehen hatte. Er sah genau, wie erfreut Grace den Geschichten ihrer Tochter lauschte; nicht ein Mal wandte sie den Blick von ihr ab. Nach einer Weile ließ der Redefluss der Kleinen merklich nach, als würde sich ihr innerer Akku langsam leeren. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf das Fenster, während sie erzählte, was sie in der Schule über Kanadagänse gelernt hatte.
    Azra kramte bunte Kreide und Papier aus ihrer Tasche und fragte, ob sie nicht eine Gans für ihre Mutter malen wollte.
    «Okay», sagte Sarah, setzte sich auf einen Stuhl, balancierte das Blatt Papier auf ihren Knien und begann zu malen; die Zunge im Mundwinkel, wirkte sie geradezu grotesk konzentriert.
    Azra lehnte sich an die Zimmerwand und atmete erschöpft aus. Mitch fragte sich, wo Grace’ Eltern oder all ihre Bekannten waren. Sie hatte immer viele Freunde gehabt.
    Dann verließ Azra das Zimmer, um die Toilette aufzusuchen, und gab Mitch mit einem Nicken zu verstehen, ein Auge auf Sarah zu haben.
    Er setzte sich wieder zu Grace und sagte leise: «Sie ist wirklich süß.»
    «Danke.»
    «Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.»
    «Überhaupt nicht. Sie sieht aus wie ihr Vater.»
    «Ja?», sagte Mitch, doch Grace gab keine Antwort. Das Thema war offensichtlich tabu. «Kann ich sonst noch etwas für dich tun?», fragte er.
    Grace verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln; ihre Wimpern zuckten. Nach all den Jahren war sie immer noch ein offenesBuch für ihn. Ihm wurde klar, dass sie große Schmerzen hatte und völlig verunsichert war, jedenfalls ganz bestimmt nicht in der Lage, ihm zu sagen, inwiefern er ihr helfen konnte. Einen Moment lang überkam ihn das überwältigende Bedürfnis, sie in die Arme zu schließen, und gleichzeitig der ebenso starke Drang, das Zimmer auf Nimmerwiedersehen zu verlassen. Er senkte den Blick, da er befürchtete, dass seine Miene diese Gefühle verraten könnte. Als er aufsah, lag immer noch jenes schmale Lächeln auf ihren Lippen, das ihr gesamtes Gesicht zusammenzuhalten schien. Er berührte ihre

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