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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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erblickte, trat ein Leuchten in ihre Augen, und zum ersten Mal an diesem Tag überkam ihn ein kleines Hochgefühl, womöglich zum ersten Mal während der ganzen Woche. «Mitch. Das ist aber eine Überraschung.»
    «Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Ich habe gerade Pause.»
    «Überhaupt nicht. Ich bin nur völlig benommen von den Schmerzmitteln.» Mit einer fahrigen Handbewegung klopfte sie neben sich auf das Bett. «Komm doch her.»
    Er zog einen Stuhl heran und setzte sich.
    Über ihrem Krankenhaushemd trug sie ein rosafarbenes Bettjäckchen, das aus dem Kleiderschrank einer alten Dame zu stammen schien. Ihre Bettnachbarin war offenbar entlassen worden, und nun hatte sie das Zimmer für sich allein.
    «Wie geht es dir?»
    «Ach, ganz okay», sagte sie, doch ihre steife Haltung, die neben ihrem Körper ruhenden Hände und der schwer auf dem Kissen liegende Kopf ließen keinen Zweifel daran, dass es ihr viel schlechter ging, als sie zugeben wollte.
    «Kannst du mir einen Gefallen tun?», fragte sie.
    «Schieß los.»
    «Hast du einen Stift dabei?»
    Er reckte das Kinn. «Wieso? Willst du deine Memoiren schreiben?»
    Statt über seinen zugegebenermaßen lauen Scherz zu lachen, streckte sie fordernd die Hand aus. Er nahm einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und reichte ihn ihr. Eine Sekunde später hatte sie ihn auch schon unter ihren Gips geschoben und begann, sich stöhnend zu kratzen. Verlegen sah Mitch zur Seite. Fieberhaft kratzte sie sich noch eine Weile, ehe sie damit aufhörte und ihm den Stift hinhielt. «Danke.»
    «Behalte ihn ruhig», sagte er.
    Sie zog eine Grimasse. «Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr das juckt. Es ist fast noch schlimmer als die Schmerzen.»
    «Das klingt schlimm, Grace.»
    «Ach was», wiegelte sie ab. «Die Ärzte sagen, ich könnte bald nach Hause. Aber ich weiß nicht, ob ich schon wieder unterrichten kann.»
    «Wo arbeitest du noch mal?»
    Sie schloss die Augen. «An einer Schule. In Beaconsfield.»
    «Was ist mit deiner Praxis passiert?»
    «Das ist eine lange Geschichte.» Es war bereits das zweite Mal, dass sie diese abgedroschene Phrase benutzte, und er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Ihm war nicht einmal richtig klar, warum er sie überhaupt besucht hatte. Natürlich machte er sich Sorgen um sie, aber genau dasselbe hätte er auch bei jedem anderen in ihrem Zustand getan. Vielleicht steckte doch mehr dahinter. Neuerdings fühlte er sich völlig abgespalten von allem, selbst seiner eigenen Vergangenheit, und das Wiedersehen mit Grace nach so vielen Jahren schien ihm einen roten Faden zu bieten, an dem er sich entlanghangeln konnte, die vage Hoffnung, wieder zu sich selbst zu finden.
    «Und du?», fragte sie. «Was macht deine Arbeit?»
    Es war so ziemlich das Letzte, worüber er reden wollte. Aber er sah, dass sie müde war, also erzählte er ihr von der Sitzung mit seiner Therapiegruppe. Von dem jungen Typen, der sich schon halb in die dreißigjährige Unternehmensberaterin neben ihm verknallt hatte (Grace nickte kaum merklich, als sie dies hörte), dem in die Jahre gekommenen Busfahrer, dessen einziger Diskussionsbeitrag darin bestand, dass er ein ums andere Mal wiederholte, seine Frau hätte ihn «hergeschickt», und der unscheinbaren Frau mit den braunen Haaren, die nach der Vorstellungsrunde keinen Ton mehr von sich gegeben hatte, nach einer halben Stunde dann aber unvermittelt in Tränen ausgebrochen war. Der Busfahrer hatte ihr väterlich die Schulter getätschelt, während sie ihr Gesicht in den Händen vergraben und sich die Gruppenatmosphäre spürbar entspannt hatte, nachdem nun allen Mitgliedern der Gruppe klar gewesen war,dass es zumindest eine Person im Raum gab, der es ebenso dreckig ging wie ihnen allen.
    Grace lauschte ihm mit geschlossenen Augen; das vage Nicken blieb die einzige Regung, mit der sie auf ihn reagierte. Ihre Brust hob und senkte sich leicht, und er fragte sich, ob sie überhaupt noch wach war, ob er ihr tatsächlich Gesellschaft leistete oder bloß den Raum mit Worten füllte. Nach einer Weile gingen ihm die Geschichten aus. Zusammen schwiegen sie, und ein seltsames Gefühl des Friedens ergriff Besitz von ihm. Grace blinzelte, als ein schmaler, greller Sonnenstrahl durch die Jalousie auf ihre Züge fiel. Er stand auf und schloss sie.
    «Tja», sagte er. «Ich lasse dich dann mal allein. Tut mir leid, dass ich dich zugetextet habe.»
    Grace lächelte, doch sie sah müde aus. «War doch nett», sagte sie, «aber du

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