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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alix Ohlin
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glühen, und seine Verbände waren total verdreckt. Tug brachte ihn sofort ins Krankenhaus, da klar war, dass der Junge dringend ein Antibiotikum benötigte. Zwar wurde er drüben im Lager erwartet, doch er blieb, während der Arzt die Wunden des Jungen säuberte und ihn an den Tropf hängte. Als das Fieberallmählich nachzulassen begann, erzählte ihm Yozefu, was geschehen war.
    Sein eigener Onkel, der Bruder seiner Mutter, war mitten in der Nacht bei ihnen aufgetaucht. Er hatte gesagt, er würde sie in seinem Haus verstecken, doch war es nur ein Vorwand, um den drei anderen Männern, die bei ihm waren, Zutritt zu ihrer Wohnung zu verschaffen. Sie hatten seine Eltern getötet, dann seine Schwester vergewaltigt. Yozefu benutzte nicht dieses Wort, sondern sagte nur, dass sie alle möglichen Dinge in ihren Körper gesteckt hatten, darunter eine Flasche und einen Ast. Als er geschrien hatte, sie sollten sie in Ruhe lassen, hatten sie gesagt: «Na schön, dann bring du sie um.» Esmeralda hatte ihn angesehen, geweint, ihn angefleht, sie zu töten. Und so hatte er es getan, mit der Machete, die sie ihm gegeben hatten. Dann hatte ihm sein Onkel das Messer wieder abgenommen, ihm den Unterarm abgehackt und ihn seinem Schicksal überlassen.
    Er hatte neben den Leichen seiner Familie ausgeharrt, bis ein anderer Onkel von ihm zufällig vorbeigekommen war und ihn zu einem Arzt gebracht hatte. Dann aber war die Krankenstation wegen der Bombardements verlegt worden und er, wieder auf sich allein gestellt, nach Hause zurückgekehrt. In der Zwischenzeit waren die Leichen in den Hof geschleift und dort verbrannt worden. Er hatte die Wohnung und den Hof gereinigt und sich dann verkrochen, in der Hoffnung, dass ihn niemand finden würde.
    Mit keiner Silbe äußerte er sich dazu, wie er sich fühlte. Er schilderte lediglich in nüchternen Fakten, was er gesehen hatte, was ihm zugestoßen war.
    Tug blieb zwei Tage und zwei Nächte bei ihm, doch Yozefu hatte eine Blutvergiftung, die bereits zu weit fortgeschritten war. Es war drei Uhr morgens, als er starb, elf Jahre alt.

    Und das war’s. Tug wurde zu einem Zombie, war zu nichts mehr zu gebrauchen. Seine Vorgesetzten beorderten ihn erst nach Nairobi, dann nach Entebbe, dann nach London, und schließlich landete er wieder in Montreal. Am Flughafen schloss Marcie ihn so ungestüm in die Arme, als wollte sie ihn erdrücken. Zu Hause angekommen, stellte er sich erst einmal unter die Dusche und zog frische Sachen an. Es war August, und draußen auf der Straße spielten Kinder, schrien und lachten. Seine Schwester kam mit ihren Kindern vorbei, um nach ihm zu sehen, ebenso wie diverse Freunde. Wenn Marcie nachts neben ihm lag, strich sie sanft mit den Fingerspitzen über seine Schulter, eine Berührung, mit der sie nichts forderte, nichts verlangte, ihm nur zu verstehen gab, dass sie bei ihm war.
    Er unterzog sich einer Therapie, so, wie es von einem erwartet wurde, wenn man etwas Traumatisches erlebt hatte. Alle rieten ihm dazu. Sein Therapeut war ein bärtiger Professorentyp mit Strickjacke, der ihn in einem Sprechzimmer voller Bücher empfing. Während der ersten Sitzung erzählte ihm Tug in Ansätzen, was er gesehen und was ihn überhaupt nach Ruanda geführt hatte, und sie sprachen über Kontrolle – was er hätte unternehmen können und was er nun tun konnte. Der Therapeut schlug ihm vor, Tagebuch zu führen, ein Buch oder ein Lied zu schreiben. Seiner Überzeugung nach löste man Probleme am besten, indem man sie aktiv anging.
    Yozefu erwähnte Tug nicht, doch ein paar Sitzungen später erzählte er von den Leichen, die im Fluss getrieben waren, den Schreien der Babys. Er erklärte, wie man mit von Cholera infizierten Leichen verfuhr, wie man ihnen Baumwollfetzen in den Mund und den Anus stopfte, sie mit Chlor desinfizierte und in Plastik hüllte, um zu verhindern, dass sich die Krankheit weiter ausbreitete; in Kigali hingegen waren die Leichen tagelang in den Straßen verwest, ehe man sie schließlich verbrannt hatte. Er wollte den Psychologen nicht vor den Kopf stoßen oder schockieren, sondern lediglich erklären, wie wichtig es war, dass man sich um die Toten kümmerte. Aber plötzlich spürte er, dass er ohne konkrete Details nicht auskam,und nachdem er eine Dreiviertelstunde ohne Unterbrechung geredet hatte, fühlte er sich ein ganz klein wenig besser. Leerer. Anschließend ging er über den Flur zur Toilette und hockte sich in eine der Kabinen, unfähig, irgendeinen Gedanken zu

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