In einer heißen Sommernacht
ihnen. In Ellas Kehle bildete sich ein Angstkloß. Um ihn zu verdrängen, sagte sie: » Die Situation ist anders als damals auf der Pritchett-Farm.«
Mr Rainwater drehte den Kopf zu ihr und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.
Ihren eigenen Befürchtungen trotzend, sagte sie: » Das hat sich damals wegen der Leute aus der Siedlung zugespitzt. Und von denen kommt bestimmt keiner hier raus. Wie auch? Wer schießt da also? Und warum?«
Ella war immer noch von den Bildern der schlimmen Verletzungen verstört, die sie bei den Frauen und Kindern gesehen hatte. Sie erinnerte sich an Bruder Calvins Schilderung, dass der kleine Pritchett aus den Armen seiner Mutter gerissen worden war, während Sheriff Anderson und seine Deputys nicht eingriffen. Plötzlich hatte sie große Angst um ihre Freunde.
» Schnell«, drängte sie und beugte sich vor, als könnte sie dadurch den Wagen beschleunigen. » Es ist gleich die Nächste links.«
Kurz bevor sie die Abzweigung erreichten, die zur Thompson-Farm führte, raste von dort ein Pick-up heran, bog mit einer scharfen Rechtskurve auf die Straße, beschleunigte dann und hielt direkt auf sie zu. Der Wagen schlingerte über den Schotter und schleuderte beinahe mehrere Männer von der Ladefläche, bevor er sich stabilisierte. Er fuhr auf ihrer Spur, um dann, mit einem lauten Hupen, im letzten Moment auf seine Seite zu schwenken.
Der Pick-up brachte Mr Rainwaters Zweitürer zum Wackeln, als er vorbeiraste. Ella erkannte den Mann am Steuer– Conrad Ellis. In der Fahrerkabine saßen zusammengepfercht drei weitere Männer. Hinten auf der Ladefläche waren ungefähr ein Dutzend, die sich aneinander und am Wagen festklammerten, um nicht herunterzufallen. Keiner schien sich allzu große Sorgen zu machen, dass er von der Ladefläche geschleudert werden könnte. Sie lachten und johlten, während sie mit ihren Pistolen und Jagdgewehren in die Luft feuerten.
Mr Rainwater nahm die Linkskurve in die Zufahrt praktisch auf zwei Rädern, wodurch Solly auf Ella geworfen wurde und Ella gegen die Beifahrertür. Es war noch eine Viertelmeile von der Straße bis zum Hof. Mr Rainwater drückte das Gaspedal wieder bis zum Anschlag durch, bis sie eine Weide erreichten, auf der ein großes Loch ausgehoben worden war. Er trat scharf auf die Bremse. Der Wagen schlitterte ein paar Meter weiter, bevor er zum Stehen kam.
Mr Rainwater stieg aus und ging um die Motorhaube herum. Er nahm seinen Hut ab und legte ihn an seinen Schenkel, während er das Massengrab betrachtete. Solly schien zufrieden damit zu sein, seine Schuhspitzen gegeneinander zu klopfen, also stieg Ella auch aus dem Wagen.
Als Bruder Calvin von dem Vorfall auf der Pritchett-Farm berichtet hatte, beschrieb er die Szenerie in sehr lebendigen Bildern. Aber die anschaulichen Schilderungen des Predigers hatten Ella nicht auf das vorbereitet, was sie zu sehen bekam. Mehrere Dutzend magere Kühe und Kälber waren in die Grube getrieben und per Kopfschuss getötet worden, manche gleich mit mehreren Schüssen. Sie lagen übereinander, die Beine ineinander verkeilt. Es war ein erschütternder Anblick.
» Das ist eine Schande.«
Ella wurde bewusst, dass Mr Rainwater hauptsächlich mit sich selbst gesprochen hatte, und was hätte sie schon hinzufügen können? Sie bedeckte ihre Augen vor der grellen Sonne und blickte zu einer Gruppe von Weidenbäumen hinüber, unter denen zwei Traktoren mit Frontladern standen. Die Fahrer ruhten sich im Schatten aus, bevor sie ihre Arbeit zu Ende bringen und die Grube zuschütten würden. Einer rauchte eine Zigarette. Der andere hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und machte scheinbar ein Nickerchen.
Ella musste sich vor Augen halten, dass die beiden, genau wie die Schützen, Männer waren, die ihr Bestes versuchten, um in den Wirren einer schlimmen Wirtschaftskrise durchzukommen. Sie hatten sich die politischen Entscheidungen nicht ausgedacht, für deren Umsetzung sie bezahlt wurden und die sie wahrscheinlich noch weniger verstanden als Ella. Es waren nur Männer, die einen harten Job in einer harten Zeit erledigten.
Trotzdem empfand sie sie als Feinde.
Sie wandte sich ab und blickte zu Solly, der immer noch auf seine Schuhspitzen fixiert war, dann machte sie sich auf den Weg zum Haus, das auf einer kleinen Anhöhe stand. Die Sonne brannte glühend heiß auf ihren Kopf und erinnerte sie daran, dass sie ihren Hut auf dem Beifahrersitz vergessen hatte. Aber sie kehrte nicht um.
Ein weißer Palisadenzaun
Weitere Kostenlose Bücher