In einer heißen Sommernacht
Sekunden verstrichen in angespanntem Schweigen, dann fragte Mr Rainwater leise: » Warum sagen Sie das?«
Ella kehrte ihm weiter den Rücken zu, während sie die Zuckerdose und frische Zitronenscheiben auf das Tablett stellte. » Sie haben doch gehört, was Doktor Kincaid gesagt hat. Sollys Begabung, mangels eines besseren Ausdrucks, hat keinen praktischen Nutzen. Außer, jemand möchte, dass seine Zahnstocher in Zehnerreihen oder seine Dominosteine in nummerisch aufsteigender Reihenfolge sortiert werden.«
» Es wundert mich, dass Sie das sagen.«
Sie wandte sich rasch zu ihm um. » Warum?«
» Weil das ein Durchbruch sein könnte. Ein Anfang. Der erste Schritt in Richtung–«
» Was, Mr Rainwater?« Ella deutete auf Solly, der die Zahnstocher in gleichem Abstand nebeneinander legte, während er rhythmisch seine Absätze gegen die Stuhlbeine schlug. » Wo führt ihn das hin? Auf die Zirkusbühne? Zur Unterhaltung der feinen Leute in Dallas und Houston?«
Sie sprach weiter mit einer Marktschreierstimme: » Hereinspaziert, hereinspaziert! Kommen und sehen Sie Solomon Barron! Er schreit wie am Spieß, schlägt um sich und bekommt Anfälle, wenn seine Mutter ihn berührt, aber er beherrscht die genialsten Kartentricks.«
» Miss Ella!« Margaret hatte sich umgedreht. Dicker, gelber Teig tropfte von dem Holzlöffel in ihrer Hand auf den Boden, aber sie war so bestürzt über Ellas emotionalen Ausbruch, dass sie es gar nicht bemerkte. » Was ist denn plötzlich in Sie gefahren?«
» Nichts. Nichts!«, erwiderte Ella mit überschlagender Stimme. » Ich versuche nur, Mr Rainwater, der aus unbekannten Gründen meinen Sohn zu seinem Lieblingsprojekt auserkoren hat, zu erklären, dass seine Bemühungen lächerlich und nutzlos sind.«
Sie machte einen Schritt zum Tisch. » Ich möchte nicht, dass mein Sohn im Kuriositätenkabinett zur Belustigung anderer Leute landet. Ich möchte nicht, dass aus ihm eine Sonderattraktion wird. Ich möchte, dass er lesen und schreiben lernt und mit mir spricht, und nicht– nicht–« Wütend fuhr sie mit der Hand über den Tisch und fegte Sollys sorgfältig arrangierte Zahnstocherreihen und die offene Schachtel auf den Linoleumboden.
Solly stieß sofort einen durchdringenden Schrei aus und begann, mit den Fäusten auf seine Schläfen zu trommeln.
Ella verstummte und erstarrte plötzlich, sie blickte fassungslos über ihr Verhalten und erschrocken auf die Zahnstocher, die über dem Boden verstreut lagen. Sie hatte nicht gedacht, dass sie so rasch ihre Beherrschung verlieren würde.
Mr Rainwater erhob sich ruhig und holte den Besen, um die Zahnstocher aufzukehren. Margaret steckte den tropfenden Löffel wieder in die Teigschüssel und sagte in sanftem Ton zu Ella: » Kümmern Sie sich um den Jungen, Miss Ella. Ich halte hier die Stellung.«
Ella war beschämt über ihren Ausbruch, sie nickte und hob Solly von seinem Stuhl. Es war ein Kampf, aber schließlich brachte sie ihn in sein Zimmer, während er weiter kreischte und um sich trat. Sie schloss die Tür, damit nur sie den Anfall aushalten musste.
Dieser war sehr heftig und dauerte fast eine halbe Stunde an. Es gelang Ella nicht, ihn zu beruhigen. Sie wich seinen Fäusten und Füßen aus, so gut es ging, aber sie wusste, dass sie morgen blaue Flecken hätte. Schließlich war Solly so erschöpft, dass er einschlief.
Ella saß auf seinem Bett und weinte viele Tränen.
Die Frustration und Traurigkeit, die sich den ganzen Tag in ihr aufgestaut hatten, entluden sich in heftigem, abgehacktem Schluchzen. Sie weinte um ihre Freunde Ollie und Lola, die zwar nun die Zwangsvollstreckung abwehren konnten, aber zu einem unglaublich hohen emotionalen Preis. Sie weinte um ihre Kinder, die etwas derart Grausames hatten mitansehen müssen, das über ihr Verständnis hinausging. Sie weinte um die Dunne-Schwestern, die darauf reduziert waren, unter einem fremden Dach zu wohnen und sich zu beschäftigen, indem sie sich über die Magd beschwerten. Sie weinte um Margaret, die ihre Vorurteile ertragen musste.
Und in einem seltenen Moment von Selbstmitleid weinte Ella um sich selbst und um Solly und ihre Misere.
Sie lebte in ständiger Angst vor der Zukunft. Jeden Tag kämpfte sie, um ihre Ängste in Schach zu halten und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Aber heute hatte sie nicht die Kraft, sie zu unterdrücken, und wurde von ihnen heftig geplagt.
Wenn Solly später einmal größer und stärker war als sie, wie sollte sie dann seine
Weitere Kostenlose Bücher