Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)

In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer kalten Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caro Ramsay
Vom Netzwerk:
weinte.
    Costello sah sich Hilfe heischend um.
    Browne trumpfte auf. Sie sagte: »Lucy, wie wäre es mit einem schönen Becher Tee?« Damit ging sie los, um einen zu holen.
    »Lucy, nach dem, was Sie gerade gesagt haben, sind einige Fragen aufgetaucht. Können wir wohl weitermachen?«
    »Die Augenbinde«, sagte Lucy entschlossen.
    »Was ist mit der Augenbinde?«
    »Letztes Jahr war ich auf einer Überraschungsparty. Wir haben uns alle versteckt, und meine Cousine wurde mit verbundenen Augen in den Raum gebracht. Ihr Mann hatte ihr die Hände übers Gesicht gehalten, über die Binde, und sie kam herein und konnte wirklich nichts sehen. Da ist bei mir alles wieder hochgekommen. Ich bin hinaus in die Küche gerannt, weil ich so gezittert habe. Aber es hat etwas in meinem Kopf freigesetzt, als ich ihn dabei gesehen habe. Ich habe verstanden, was mein Vergewaltiger getan hat – er hatte mir die Sicht genommen und sichergestellt, dass ich absolut nichts sehen kann.«
    »Und das war, bevor …?«
    Lucy nickte heftig. »Einen Moment lang, einige Sekunden lang, fühlte es sich an, als wolle er mir die Augäpfel ins Hirn drücken.«
    »Das haben Sie auch bei der aufgezeichneten Vernehmung gesagt«, meinte Costello. »Daran erinnere ich mich.«
    Lucy lächelte sie dankbar an.
    Vorsichtig stand Costello auf und stellte sich vor Lucy. »Wenn ich das jetzt mache?« Sie legte Lucy die Hände seitlich an die Schläfen und bedeckte mit den Daumen Lucys Augen.
    Lucy riss den Kopf zur Seite und schnappte mit der Hand nach Costellos Unterarm. Sie keuchte und schwitzte.
    »Tut mir schrecklich leid, Lucy. War es ungefähr so?«, fragte Costello.
    Lucy nickte und rang um Atem. »Sie haben recht. So war es. Nur stärker. Viel stärker.«
    In diesem Augenblick kehrte Browne mit dem versprochenen Tee zurück, den Lucy herunterstürzte wie puren Gin.
    Kurz darauf fragte Costello: »Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen? Sicherlich ist das alles schwierig für Sie?«
    »Mir geht’s bestens. Fragen Sie nur«, antwortete Lucy und stellte den Becher ab.
    »Ich würde gern mit Ihnen über Schusswaffen reden. Sie kennen sich doch mit Schusswaffen aus, oder? Was für eine Schusswaffe könnte einen Schädel zerschmettern und eine schmale Wunde durch einen Stoß mit der Spitze verursachen?«, wollte Costello wissen. »Sie müsste einen langen Lauf haben.«
    Lucy runzelte die Stirn. »Wenn Sie jemanden mit einer Schusswaffe schlagen wollen, packen Sie den Lauf und hauen mit dem Kolben zu. Der ist schwerer und richtet größeren Schaden an.«
    »Können Sie uns sagen, wofür Silikonfett benutzt wird?«
    »Bei Waffen, um zu verhindern, dass sie Ladehemmungen bekommen. Aber es war keine Waffe – ich bleibe dabei«, antwortete Lucy trotzig.
    In diesem Moment ging die Tür auf, aufgedrückt von Nesbitt, der seine zerfranste Leine hinter sich herzog und auf einen Keks als Beute hoffte.
    Lucy lachte unter Tränen. »Gott, was für ein Anblick! Na, da gibt es wohl jemanden, dem es im Leben noch schlimmer ergangen ist als mir.«
    Zehn Meilen vor Glasgow kam die erste Nebelwarnung. Bis dahin hatten sie freie Fahrt von Edinburgh gehabt, jetzt hingegen begann der Verkehr zu kriechen. Einige Minuten später standen sie in einem Stau, der sich vermutlich so bald nicht auflösen würde.
    Batten hatte die ganze Zeit seinen Gedanken nachgehangen und Zeichen und Gesichter auf die beschlagene Scheibe der Beifahrertür gezeichnet. Nun sagte er plötzlich: »Vor langer, langer Zeit lebte ein wunderschöner junger Mann namens Narziss.«
    »Märchenstunde?«, knurrte Anderson.
    »Richtig. Eines Tages kam der junge Narziss an eine Wasserquelle und sah sein eigenes Spiegelbild. Die Nymphe Echo, die sich in ihn verliebte, bemühte sich nach Leibeskräften, seine Aufmerksamkeit zu erlangen, aber er nahm keine Notiz von ihr. Er hatte sich in das Bild seines eigenen Gesichts auf dem Wasser verliebt. Er hätte ertrinken können, als er ins Wasser sprang, um dem Objekt seiner Begierde nahe zu kommen, oder einfach verhungern, weil er den Blick nicht mehr lange genug von seinem eigenen Gesicht lösen konnte, um etwas Anständiges zu essen. Jedenfalls starb er. Und wo er starb, wuchs eine Narzisse, und die arme kleine Echo verzehrte sich vor Kummer, bis von ihrer Stimme nur noch der letzte Nachhall geblieben war.« Batten verstummte.
    »Und da sie gestorben sind, leben sie auch heute nicht mehr.«
    »Die Sache ist, die Leute glauben, Narzissten mögen es, bewundert und geliebt

Weitere Kostenlose Bücher