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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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verdammten Sicherheitsgurt!« sagte sie mit derartigem Nachdruck, daß einige der Gäste an den anderen Tischen kurz zu ihnen herüberschauten. »Vielleicht hatte sie Kopfschmerzen und hat deshalb dieses eine Mal nicht daran gedacht, den Gurt anzulegen, aber das heißt noch lange nicht, daß sie den Wagen absichtlich zu Schrott gefahren hat. Und Kopfschmerzen – starke Kopfschmerzen – würden auch erklären, warum Todd angeschnallt war. Aber das ist immer noch nicht der entscheidende Punkt.«
    »Was ist es dann?«
    »Daß es hier für Ihre Wut entschieden zu viele Vielleichts gibt. Und selbst wenn die schlimmsten Dinge, die Sie argwöhnen, zuträfen, würden Sie es trotzdem niemals wissen, nicht wahr?«
    »Nein.«
    »Und wenn Sie es wüßten...« Sie sah ihn unverwandt an. Auf dem Tisch stand zwischen ihnen eine Kerze. Ihre Augen waren dunkelblau in ihrer Flamme, und er konnte in jedem von ihnen einen winzigen Lichtfleck sehen. »Nun, auch ein Gehirntumor ist ein Unfall. Es gibt keinen Schuldigen, Alan, keinen – wie heißt das in Ihrem Jargon? – keinen Täter. Solange Sie das nicht akzeptieren, gibt es keine Chance.«
    »Was für eine Chance?«
    »Unsere Chance«, sagte sie gelassen. »Ich mag Sie sehr gern, Alan, und ich bin noch nicht zu alt, um ein Risiko einzugehen, aber ich bin alt genug, um über ein gewisses Maß an traurigen Erfahrungen zu verfügen – ich weiß, wohin meine Gefühle mich bringen können, wenn sie außer Kontrolle geraten. Ich lasse sie nicht einmal in die Nähe dieses Punktes kommen, bis Sie imstande sind, Annie und Todd ihre Ruhe zu gönnen.«
    Er sah sie an, sprachlos. Sie musterte ihn ernst über ihr Essen in dem alten Landgasthaus hinweg; Feuerschein aus dem Kamin flackerte orangefarben über ihre glatten Wangen und die linke Seite ihrer Stirn. Draußen spielte der Wind einen langen Posaunenton unter der Dachtraufe.
    »Habe ich zuviel gesagt?« fragte Polly. »Wenn ja, dann möchte ich, daß Sie mich nach Hause bringen, Alan. Ich hasse peinliche Situationen fast ebensosehr, wie ich es hasse, nicht meine Meinung zu sagen.«
    Er langte über den Tisch und berührte kurz ihre Hand. »Nein, Sie haben nicht viel gesagt. Ich höre Ihnen gern zu, Polly.«
    Da hatte sie gelächelt. Es hatte ihr ganzes Gesicht erhellt. »Dann bekommen Sie Ihre Chance«, sagte sie.
    So hatte es mit ihnen angefangen. Sie hatten sich nicht schuldig gefühlt, wenn sie einander sahen, aber ihnen war klar, daß sie vorsichtig sein mußten – nicht nur, weil es eine kleine Stadt war, in der er ein gewählter Beamter und sie auf den guten Willen der Leute angewiesen war, damit ihr Geschäft florierte, sondern auch deshalb, weil beide die Möglichkeit von Schuldbewußtsein sahen. Keiner von ihnen war zu alt, um ein Risiko einzugehen, aber sie waren beide ein wenig zu alt, um leichtsinnig zu sein. Vorsicht war geboten.
    Dann, im Mai, hatte er zum erstenmal mit ihr geschlafen, und sie hatte ihm alles über die Jahre zwischen damals und heute erzählt – die Geschichte, die er nicht ganz glaubte, von der er überzeugt war, daß sie sie ihm eines Tages noch einmal erzählen würde, ohne den zu direkten Blick und die linke Hand, die zu häufig an ihrem linken Ohrläppchen zupfte. Er begriff, wie schwer es ihr gefallen war, ihm auch nur das zu erzählen, was sie erzählt hatte, und war es zufrieden, auf den Rest zu warten. Mußte zufrieden sein. Weil Vorsicht geboten war. Es war genug – vollauf genug -, um sich in sie zu verlieben, während der lange Sommer von Maine an ihnen vorüberglitt.
    Jetzt, da er in der Dunkelheit zur Decke ihres Schlafzimmers emporschaute, fragte er sich, ob die Zeit gekommen war, wieder von Ehe zu reden. Er hatte es einmal versucht, im August, und sie hatte ihm wieder einen Finger auf die Lippen gelegt. Still. Er nahm an...
    Aber da begann seine Kette bewußter Gedanken abzureißen, und Alan glitt mühelos in den Schlaf.

9
     
    In seinem Traum kaufte er in einem riesigen Laden ein, wanderte einen Gang entlang, der so lang war, daß er in der Ferne zu einem Punkt zusammenschrumpfte. Hier gab es alles, was er sich immer gewünscht hatte, sich aber nicht leisten konnte – eine auf Druck reagierende Uhr, einen echten weichen Filzhut von Abercrombie & Fitch, eine Bell and Howell Acht-Millimeter-Filmkamera, Hunderte von anderen Dingen – aber irgend jemand war hinter ihm, direkt hinter seiner Schulter, wo er ihn nicht sehen konnte.
    »Hier unten nennen wir das Metzerfüllsel, alter Freund«,

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