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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hat, die mir entgangen sind, dann bin ich auch für seinen Tod verantwortlich. Und das ist etwas, das ich wissen muß.«
    Hier hatte er innegehalten, und sein Herz hatte dumpf in seiner Brust geklopft. Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn und war ein wenig überrascht, als er feststellte, daß sie schweißnaß war.
    »Alan«, sagte sie und legte eine Hand auf sein Handgelenk. Ihre hellblauen Augen blicken unverwandt in die seinen. »Wenn ich solche Anzeichen bemerkt und niemandem etwas davon gesagt hätte, dann wäre ich ebenso schuldig, wie Sie es offenbar sein möchten.«
    Er hatte sie fassungslos angestarrt, daran erinnerte er sich. Polly hatte vielleicht in Annies Verhalten etwas bemerkt, das ihm entgangen war; so weit war er bei seinen Überlegungen gekommen. Der Gedanke, daß merkwürdiges Verhalten die Verantwortung mit sich brachte, etwas zu unternehmen, war ihm bis jetzt überhaupt nicht gekommen.
    »Sie haben nichts bemerkt?« fragte er schließlich.
    »Nein. Ich habe es mir immer wieder durch den Kopf gehen lassen. Mir liegt es fern, Ihren Kummer und Ihren Verlust zu schmälern, aber Sie sind nicht der einzige, der diese Dinge empfindet, und Sie sind auch nicht der einzige, der seit Annies Unfall immer wieder versucht hat, seine Seele zu durchforschen. Ich bin diese letzten paar Wochen durchgegangen, bis mir schwindlig wurde, habe Szenen und Unterhaltungen im Lichte dessen, was die Autopsie ergeben hat, immer wieder ablaufen lassen. Ich tue es auch jetzt, seit ich weiß, was Sie mir über das Glas mit den Tabletten erzählt haben. Und wissen Sie, was ich gefunden habe?«
    »Was?«
    »Nichts.« Sie sagte es so wenig nachdrücklich, daß es seltsam überzeugend war. »Überhaupt nichts. Es gab Zeiten, zu denen ich fand, daß sie ein wenig blaß aussah. Ich erinnere mich an ein paar Gelegenheiten, bei denen ich hörte, wie sie Selbstgespräche führte, während sie Röcke säumte oder Stoff auspackte. Das ist die exzentrischste Verhaltensweise, an die ich mich erinnern kann, und bei denen habe ich mich oft genug selbst ertappt. Und Sie?«
    Alan nickte.
    »Meistens war sie so, wie sie immer war, seit ich sie kennenlernte: fröhlich, liebenswürdig, hilfsbereit – eine gute Freundin.«
    »Aber...«
    Ihre Hand lag nach wie vor auf seinem Handgelenk; sie griff etwas fester zu. »Nein, Alan. Kein Aber. Ray Van Allen tut es auch, was Sie vielleicht nicht wissen. Ihm geht die Sache auch nicht aus dem Kopf. Machen Sie ihm Vorwürfe? Sind Sie der Ansicht, es wäre Rays Schuld, weil er den Tumor nicht erkannt hat?«
    »Nein, aber...«
    »Und was ist mit mir? Ich habe Tag für Tag mit ihr zusammengearbeitet, meistens Seite an Seite; wir haben um zehn miteinander Kaffee getrunken, um zwölf miteinander zu Mittag gegessen und um drei abermals Kaffee getrunken. Wir haben, nachdem einige Zeit vergangen war, sehr offen miteinander geredet, und wir haben uns kennen und schätzen gelernt. Ich weiß, wie viel sie von Ihnen hielt, Alan, als Freund und als Liebhaber, und ich weiß, daß sie die Jungen liebte. Aber wenn sie ihrer Krankheit wegen Selbstmordgedanken gehegt hätte – dann habe ich es nicht gewußt. Also sagen Sie mir – wollen Sie mir einen Vorwurf daraus machen?« Und ihre klaren blauen Augen hatten offen und neugierig in die seinen geschaut.
    »Nein, aber...«
    Die Hand drückte abermals, leicht, aber befehlend.
    »Ich möchte Sie etwas fragen. Es ist wichtig, also denken Sie genau nach.«
    Er nickte.
    »Ray war ihr Arzt, und wenn es da war, dann hat er es nicht gemerkt. Ich war ihre Freundin, und wenn es da war, dann habe ich es nicht gemerkt. Sie waren ihr Mann, und wenn es da war, haben Sie es gleichfalls nicht gemerkt. Und Sie glauben, das wäre es, das wäre das Ende der Linie. Aber das ist es nicht.«
    »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«
    »Noch jemand stand ihr nahe«, hatte Polly gesagt. »Noch näher als einer von uns, möchte ich annehmen.«
    »Wen meinen Sie?«
    »Alan, was hat Todd gesagt?«
    Er konnte sie nur verständnislos anstarren. Ihm war, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen.
    »Todd«, sagte sie, und in ihrer Stimme klang Ungeduld. »Todd, Ihr Sohn. Der Sie nachts um den Schlaf bringt. Er ist es, nicht wahr? Nicht sie, sondern er.«
    »Ja«, sagte er. »Er.« Seine Stimme kam hoch und unsicher heraus, war seiner eigenen überhaupt nicht ähnlich, und er spürte, wie sich etwas in ihm verlagerte, etwas Großes und Fundamentales. Jetzt, da er hier in Pollys

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