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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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die Worte. »Sie fehlen mir beide, o Gott, wie sehr sie mir beide fehlen!«
    »Ich weiß«, sagte Polly ruhig. »Das ist, um was es im Grunde geht, nicht wahr? Wie sehr sie Ihnen beide fehlen.«
    Er begann zu weinen. Al hatte zwei Wochen lang jede Nacht geweint, und Alan war dagewesen, um ihn zu halten und ihm soviel Trost zu spenden, wie er konnte. Aber Alan selbst hatte nicht geweint. Jetzt tat er es. Das Schluchzen ergriff ihn und trug ihn, wohin es wollte; er hatte nicht die Kraft, ihm Einhalt zu gebieten. Er konnte seinen Kummer nicht mäßigen, und jetzt hatte er endlich, mit tiefer und völlig unlogischer Erleichterung, festgestellt, daß es ihn auch gar nicht danach verlangte.
    Er schob die Kaffeetasse blind beiseite, hörte, wie sie in irgendeiner anderen Welt auf dem Boden landete und zerbrach. Er legte seinen überhitzten, dröhnenden Kopf auf den Tisch, schlang die Arme darum und weinte.
    Irgendwann hatte er gespürt, wie sie seinen Kopf hob mit ihren kühlen Händen, ihren verunstalteten, freundlichen Händen, und ihn in ihren Schoß bettete. Sie hatte ihn dort festgehalten, und er hatte lange geweint.

8
     
    Ihr Arm glitt von seiner Brust herunter. Alan bewegte sie sanft; er wußte, wenn er ihre Hand auch nur ganz leicht anstieß, würde sie aufwachen. Er blickte zur Decke empor und fragte sich, ob Polly an jenem Tag seinen Kummer ganz bewußt provoziert hatte. Er war davon fast überzeugt, weil sie gewußt oder gespürt hatte, daß es für ihn viel wichtiger war, seinem Kummer Ausdruck zu geben, als Antworten zu finden, die es mit ziemlicher Sicherheit ohnehin nicht gab.
    Damit hatte es mit ihnen angefangen, obwohl er nicht begriffen hatte, daß es ein Anfang war; ihm war es eher vorgekommen wie das Ende von etwas. Zwischen damals und dem Tag, an dem er endlich genügend Mut aufgebracht hatte, um Polly zu fragen, ob sie mit ihm essen gehen würde, hatte er oft an den Blick ihrer blauen Augen und das Gefühl ihrer Hand auf seinem Handgelenk denken müssen. Er dachte an die sanfte Unerbittlichkeit, mit der sie ihn zu Gedanken zwang, die er entweder ignoriert oder übersehen hatte. Und während dieser Zeit hatte er versucht, sich mit einer neuen Kollektion von Gefühlen über Annies Tod abzufinden; sobald die Straßensperre zwischen ihm und seinem Kummer weggeräumt worden war, hatten sich diese anderen Gefühle wie ein Sturzbach über ihn ergossen. Das wichtigste und quälendste dieser Gefühle war eine entsetzliche Wut auf sie gewesen, weil sie ihm eine Krankheit verheimlicht hatte, die zu behandeln und zu heilen gewesen wäre – und weil sie an diesem Tag ihren Sohn mit sich genommen hatte. Über einige dieser Gefühle hatte er an einem kühlen, regnerischen Abend im April mit Polly in The Birches gesprochen.
    »Sie haben aufgehört, an Selbstmord zu denken, und angefangen, an Mord zu denken«, hatte sie gesagt. »Deshalb sind Sie so wütend, Alan.«
    Er schüttelte den Kopf und wollte etwas erwidern, aber sie hatte sich über den Tisch gelehnt und einen ihrer verkrüppelten Finger einen Augenblick lang auf seine Lippen gelegt. Still. Und die Geste hatte ihn so verblüfft, daß er still gewesen war.
    »Ja«, sagte sie. »Diesmal werde ich Ihnen keine Fragen stellen, Alan – es ist lange her, seit ich zum letztenmal mit einem Mann ausgegangen bin, und ich genieße es zu sehr, um hier die Chefanklägerin zu spielen. Aber Leute geraten nicht in Wut über andere Leute – jedenfalls nicht auf die Weise, auf die Sie wütend sind -, weil sie einen Unfall hatten, es sei denn, es wäre eine große Portion Fahrlässigkeit im Spiel. Wenn Annie und Todd gestorben wären, weil die Bremsen des Scout versagten, dann könnten Sie sich Vorwürfe machen, weil Sie sie nicht überprüft haben, oder Sie könnten Sonny Jackett verklagen, weil er bei der letzten Inspektion gepfuscht hat, aber Sie würden ihr keinen Vorwurf daraus machen. Ist es nicht so?«
    »Ich nehme es an.«
    »Ich weiß, daß es so ist. Vielleicht ist es tatsächlich ein Unfall gewesen. Sie wissen, daß sie beim Fahren möglicherweise einen Anfall erlitten hat, weil Dr. Van Allen es Ihnen gesagt hat. Aber ist Ihnen je der Gedanke gekommen, daß sie vielleicht von der Straße abkam, weil sie einem Reh ausweichen wollte? Daß es etwas so Simples gewesen sein könnte?«
    Der Gedanke war ihm gekommen. Ein Reh, ein Vogel, sogar ein entgegenkommender Wagen, der auf ihre Fahrspur geraten war.
    »Ja. Aber ihr Sicherheitsgurt...«
    »Vergessen Sie den

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