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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Bett lag, trat ihm der Augenblick an seinem Küchentisch mit fast übernatürlicher Klarheit wieder vor Augen: ihre Hand auf seinem Handgelenk in einem schräg einfallenden Streifen der Spätnachmittagssonne, die Haare darauf wie ein fein gesponnenes Gold; ihre hellen Augen; ihre sanfte Unerbittlichkeit.
    »Hat sie Todd gezwungen, ins Auto einzusteigen, Alan? Hat er gestrampelt? Geschrien? Sich widersetzt?«
    »Nein, natürlich nicht, sie war doch seine Mu...«
    »Wessen Idee war es, daß Todd an diesem Tag mit ihr einkaufen fuhr? Ihre oder seine? Können Sie sich erinnern?«
    Er wollte gerade nein sagen, aber plötzlich erinnerte er sich. Ihre Stimmen, die aus dem Wohnzimmer herüberdrifteten, während er an seinem Schreibtisch saß und die Haftbefehle des Counties durchsah:
    Ich fahre zum Markt, Todd – kommst du mit?
    Kann ich mir die neuen Videos ansehen?
    Ich denke schon. Frag deinen Vater, ob er irgend etwas braucht.
    »Es war ihre Idee«, teilte er Polly mit.
    »Sind Sie sicher?«
    »Ja. Aber sie hat ihn gefragt. Sie hat es ihm nicht befohlen.«
    Dieses Ding in ihm, dieses fundamentale Ding, bewegte sich noch immer. Es würde fallen, dachte er, und wenn es das tat, würde es ein ganz gewaltiges Loch aufreißen, denn seine Wurzeln reichten tief in ihn hinein.
    »Hatte er Angst vor ihr?«
    Jetzt hatte sie fast ihn ins Kreuzverhör genommen, so, wie er Ray Van Allen ins Kreuzverhör genommen hatte; aber er schien nicht imstande zu sein, ihr Einhalt zu gebieten. Und er wußte auch nicht, ob er das wollte. Da war wirklich etwas, auf das er in seinen langen Nächten nie gekommen war. Etwas, das noch am Leben war.
    »Todd Angst vor Annie? Himmel, nein!«
    »Nicht in den letzten paar Monaten ihres Lebens?«
    »Nein.«
    »In den letzten paar Wochen?«
    »Polly, ich war damals nicht in der Verfassung, viel zu bemerken. Da war diese Geschichte mit Thad Beaumont, dem Schriftsteller – diese total verrückte Geschichte...«
    »Wollen Sie damit sagen, daß Sie so abwesend waren, daß Sie Annie und Todd nicht bemerkten, wenn Sie zu Hause waren, oder daß Sie überhaupt nur selten zu Hause waren?«
    »Nein – ja – ich meine, natürlich war ich zu Hause, aber...«
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, derjenige zu sein, auf den diese schnellen Fragen abgefeuert wurden. Es war, als hätte Polly ihn mit Novocain betäubt und dann angefangen, ihn als Sandsack zu benutzen. Und dieses fundamentale Ding, was immer es sein mochte, war nach wie vor in Bewegung, rollte immer noch der Grenze entgegen, an der die Schwerkraft es nicht mehr halten würde.
    »Ist Todd je zu Ihnen gekommen und hat gesagt: >Ich habe Angst vor Mommy    »Nein...«
    »Ist er je gekommen und hat gesagt: >Daddy, ich glaube, Mommy will sich umbringen und mich zur Gesellschaft mitnehmen?«
    »Polly, das ist doch lächerlich! Ich...«
    »Hat er es getan?«
    »Nein!«
    »Hat er je gesagt, daß sie merkwürdig handelt oder redet?«
    »Nein...«
    »Und Al war fort, in der Schule, stimmt’s?«
    »Was hat das zu tun mit...«
    »Sie hatte nur noch ein Kind im Nest. Wenn Sie unterwegs waren, arbeiteten, war niemand in dem Nest außer ihnen beiden. Sie aß mit ihm zusammen, half ihm bei den Schularbeiten, saß mit ihm vor dem Fernseher...«
    »Las ihm vor...« sagte er. Seine Stimme war verschliffen, fremdartig. Er erkannte sie kaum wieder.
    »Sie war vermutlich der erste Mensch, den Todd am Morgen sah, und der letzte Mensch, den er am Abend sah«, sagte Polly. Ihre Hand lag auf seinem Handgelenk. Ihre Augen blickten ernsthaft in die seinen. »Wenn überhaupt jemand in der Lage war, es vorauszusehen, dann war er es, der mit ihr starb. Und er hat nie auch nur ein Wort gesagt.«
    Plötzlich stürzte das Ding in ihm. In seinem Gesicht begann es zu arbeiten. Er konnte spüren, wie es passierte – es war, als wären an Dutzenden von verschiedenen Stellen Seile an ihm angebracht, und an jedem zerrte jetzt eine sanfte, aber beharrliche Hand. Hitze flutete in seine Kehle und versuchte, sie zu verschließen. Seine Augen füllten sich mit Tränen; Polly Chalmers verdoppelte, verdreifachte sich und zerbrach dann in Prismen aus Licht und Bildern. Seine Brust bebte, aber seine Lungen schienen keine Luft zu finden. Seine Hand drehte sich mit der unheimlichen Behendigkeit, die ihm eigen war, und krampfte sich um die ihre; es mußte ihr furchtbar weh getan haben, aber sie gab keinen Laut von sich.
    »Sie fehlt mir!« schrie er Polly an, und ein großer, schmerzender Seufzer zerriß

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