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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Totalisator das Gegenteil behauptet. Aber das werden Sie noch lernen.«
    Und natürlich hatte er es gelernt.
    Irgendwo schrillte eine Glocke mit einem lauten Brrrrenngg!, bei dem Keeton zusammenfuhr. Eine Stimme rief: » Und loooos geht’s!« über die Lautsprecher der Rennbahn. Die Menge brüllte auf, und Keeton hatte das Gefühl, als durchführe ihn plötzlich ein elektrischer Stromstoß. Hufe trommelten auf die Bahn. Frazier ergriff Keetons Ellenbogen mit einer Hand und benutzte die andere, um sich einen Weg durch die Menge zum Zaun zu bahnen. Sie erreichten ihn keine zwanzig Meter vom Ziel entfernt.
    Jetzt kommentierte der Ansager das Rennen. Nummer Sieben, My Lass, führte in der ersten Kurve, gefolgt von Nummer Acht, Broken Field, und Nummer Eins, How Do? Nummer Vier hieß Absolutely – der dämlichste Name für eine Stute, den Keeton je gehört hatte -, und lief an sechster Stelle. Es war ihm fast gleichgültig. Er war fasziniert von den dahinjagenden Pferden, deren Fell unter den Flutlichtern schimmerte, vom Wirbel der Räder, als die Sulkies um die Kurve bogen, von den leuchtenden Farben der Blusen der Fahrer.
    Als die Pferde in die Gegengerade einschwenkten, begann Broken Field, My Lass die Führung streitig zu machen. Gleichzeitig kam Absolutely auf der Außenbahn nach vorn – Keeton sah es, bevor die körperlose Stimme des Ansagers es verkündete, und er spürte kaum, wie Frazier ihn anstieß, hörte kaum, wie er rief: »Das ist Ihr Pferd, Buster! Das ist Ihr Pferd, und es hat eine Chance!«
    Als die Pferde die Zielgerade entlang auf die Stelle zudonnerten, an der Keeton und Frazier standen, begann die ganze Menge zu brüllen. Keeton fühlte abermals, wie ein Stromstoß durch ihn hindurchfuhr, doch diesmal war es nicht nur ein Funke, sondern ein Gewitter. Er brüllte mit den anderen; am nächsten Tag war er so heiser gewesen, daß er gerade noch flüstern konnte.
    »Absolutely!« brüllte er. »Los, Absolutely, los, nun mach schon, du Biest, und RENNE!«
    »Trabe«, sagte Frazier und lachte so heftig, daß ihm Tränen über die Wangen rollten. »Nun mach schon, du Biest, und trabe. Das ist es, was Sie meinen, Buster.«
    Keeton hörte nicht, was er sagte. Er war in einer anderen Welt. Er sendete Hirnstöße hinaus zu Absolutely, übermittelte ihr telepathische Kraft durch die Luft hindurch.
    »Jetzt sind es Broken Field und How Do?, How Do? und Broken Field«, verkündete die gottgleiche Stimme des Ansagers, »und Absolutely holt auf, und jetzt kommt die letzte Achtelineile...«
    Die Pferde näherten sich, wirbelten eine Staubwolke auf. Absolutely trabte mit gebogenem Hals und weit vorgestrecktem Kopf, ihre Beine hoben und senkten sich wie Kolben; sie überholte How Do? und Broken Field, die jetzt stark zurückfielen, genau an der Stelle, an der Keeton und Frazier standen. Sie vergrößerte ihre Führung noch, während sie die Ziellinie überquerte.
    Als am Totalisator die Zahlen erschienen, mußte Keeton Frazier fragen, was sie zu bedeuten hatten. Frazier hatte auf seinen Wettschein geschaut und dann auf die Tafel. Er pfiff lautlos.
    »Bekomme ich meinen Einsatz wieder heraus?« fragte Keeton nervös.
    »Etwas mehr als das, Buster. Die Quote für Absolutely war dreißig zu eins.«
    Bevor er an diesem Abend die Rennbahn verließ, hatte Buster etwas über dreihundert Dollar gewonnen. Das war die Geburtsstunde seiner Besessenheit gewesen.

3
     
    Er nahm seinen Mantel von dem Ständer in der Ecke seines Büros, zog ihn an und wollte gehen; doch dann blieb er mit dem Türknauf in der Hand stehen und blickte in das Zimmer zurück. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand hing ein Spiegel. Keeton betrachtete ihn nachdenklich ein paar Sekunden, dann ging er auf ihn zu. Er hatte davon gehört, auf welche Weise SIE Spiegel benutzten – er war schließlich nicht von gestern.
    Er hielt sein Gesicht nahe daran, nahm aber das von ihm reflektierte bleiche Gesicht und die blutunterlaufenden Augen nicht zur Kenntnis. Er legte die Hände an die Wangen, um das Gleißen abzuschirmen, verengte die Augen, suchte nach einer Kamera auf der anderen Seite. Suchte nach IHNEN.
    Er sah nichts.
    Einen langen Moment später trat er zurück, wischte gleichgültig mit dem Ärmel seines Mantels über das verschmierte Glas und verließ das Büro. Jedenfalls jetzt noch nichts. Aber das bedeutete nicht, daß SIE nicht heute abend kommen, seinen Spiegel herausreißen und ihn durch einseitig durchsichtiges Glas ersetzen würden.

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