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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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überhaupt angenehm sein kann, dann ist es diese Düsternis. Eine kleine Leselampe warf einen goldenen Kreis auf den Tresen neben Mr. Gaunts altmodischer Registrierkasse. Daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson.
    Mr. Gaunt musterte Polly eindringlich, und abermals mußte sie lächeln, als sie den besorgten Ausdruck in seinen Augen bemerkte.
    »Meine Hände sind in den letzten Tagen Amok gelaufen«, sagte sie. »Ich sehe vermutlich nicht gerade aus wie Demi Moore.«
    »Sie sehen aus wie eine Frau, die sehr erschöpft ist und eine Menge auszustehen hat.«
    Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde unsicher. In seiner Stimme schwang Verständnis und tiefes Mitgefühl, und einen Moment lang fürchtete Polly, sie würde in Tränen ausbrechen. Der Gedanke, der die Tränen in Schach hielt, war überaus seltsam: Seine Hände. Wenn ich weine, wird er versuchen, mich zu trösten. Er wird mich mit seinen Händen anfassen.
    Sie zwang sich, zu lächeln.
    »Ich werde es überleben; das habe ich immer getan. Sagen Sie – hat Nettie Cobb bei Ihnen hereingeschaut?«
    »Heute?« Er runzelte sie Stirn. »Nein; heute nicht. Wenn sie gekommen wäre, hätte ich ihr ein neues Stück Buntglas gezeigt, das gestern hereingekommen ist. Es ist nicht so hübsch wie das, das ich ihr vor ein paar Tagen verkauft habe, aber ich dachte, es könnte sie interessieren. Warum fragen Sie?«
    »Oh – aus keinem besonderen Grund«, sagte Polly. »Sie sagte, sie würde es vielleicht tun; aber Nettie – Nettie vergißt oft etwas.«
    »Ich hatte den Eindruck, daß sie eine Frau ist, die es nicht leicht gehabt hat im Leben.«
    »Ja. Ja, so ist es.« Polly sprach diese Worte langsam und mechanisch. Offenbar war sie nicht imstande, die Augen von ihm abzuwenden. Dann stieß eine ihrer Hände gegen die Kante einer Vitrine, und das veranlaßte sie, den Augenkontakt zu unterbrechen. Ein kleiner Schmerzenslaut entschlüpfte ihr.
    »Ist alles in Ordnung?«
    »Ja, es geht mir gut«, sagte Polly, aber das war eine Lüge – es ging ihr alles andere als gut.
    Mr. Gaunt schien das zu wissen. »Es geht Ihnen nicht gut«, sagte er entschieden. »Deshalb werde ich mich nicht bei irgendwelchen Vorreden aufhalten. Der Gegenstand, von dem ich Ihnen geschrieben habe, ist hereingekommen. Ich werde ihn Ihnen geben und Sie dann nach Hause schikken.«
    »Ihn mir geben? «
    »Oh, ich biete Ihnen kein Geschenk an«, sagte er und trat hinter die Registrierkasse. »Dafür kennen wir einander noch nicht gut genug, oder?«
    Sie lächelte. Er war ganz eindeutig ein gütiger Mann, ein Mann, der, was ganz natürlich war, nett sein wollte zu der ersten Person, die in Castle Rock nett zu ihm gewesen war. Aber es fiel ihr schwer, darauf zu antworten – es fiel ihr sogar schwer, der Unterhaltung überhaupt zu folgen. Die Schmerzen in ihren Händen waren monströs. Jetzt wünschte sie sich, sie wäre nicht hergekommen, und alles, was sie wollte, ob Nettigkeit oder nicht, war, nach Hause zu gehen und eine Schmerztablette zu nehmen.
    »Es ist ein Gegenstand von der Art, die ein Händler zur Probe anbieten muß – das heißt, wenn er ein redlicher Mensch ist.« Er brachte ein Schlüsselbund zum Vorschein, wählte einen Schlüssel aus und schloß die Schublade unter der Registrierkasse auf. »Wenn Sie ihn ein paar Tage ausprobiert haben und feststellen, daß er für Sie wertlos ist – und ich muß Ihnen sagen, daß das wahrscheinlich der Fall sein wird -, dann geben Sie ihn mir zurück. Wenn Sie dagegen feststellen, daß er Ihnen einige Erleichterung verschafft, dann können wir über den Preis reden.«
    Sie sah ihn verwirrt an. Erleichterung? Wovon redete er?
    Er holte eine kleine weiße Schachtel aus der Schublade und stellte sie auf den Tresen. Mit seinem langfingrigen Händen hob er den Deckel ab und nahm einen kleinen silbernen Gegenstand an einer dünnen Kette heraus, der auf einem Wattepolster gelegen hatte. Es schien eine Art Halsschmuck zu sein, aber das Ding, das daran hing, sah aus wie ein Tee-Ei oder ein übergroßer Fingerhut.
    »Das ist ägyptisch, Polly. Sehr alt. Nicht so alt wie die Pyramiden – bei weitem nicht -, aber trotzdem sehr alt. Es ist etwas darin. Irgendwelche Kräuter, nehme ich an, aber genau weiß ich es nicht.« Er bewegte seine Finger auf und ab. Das silberne Tee-Ei (wenn es eines war) tanzte an der Kette. Irgend etwas regte sich darin, etwas, das ein trockenes, knisterndes Geräusch von sich gab. Polly empfand es vage als

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