In einer kleinen Stad
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3
»Was ist es?« fragte Alan, als er und Polly langsam auf Alans Kombi zugingen. Er hatte gehofft, noch zumindest ein Wort mit Norris wechseln zu können, aber Norris war bereits in seinen Käfer gestiegen und davongefahren. Vermutlich zurück zum See, um noch ein bißchen zu angeln, bevor die Sonne unterging.
Polly sah ihn an, noch immer rotäugig und blaß, aber mit einem zögernden Lächeln.
»Was ist was?«
»Deine Hände. Was hat sie soviel besser gemacht? Es ist das reinste Wunder.«
»Ja«, sagte sie und streckte sie ihm mit gespreizten Fingern entgegen, so daß beide sie betrachten konnten. »Das ist es, nicht wahr?«
Ihre Finger waren noch immer verkrümmt und die Gelenke nach wie vor verdickt, aber die akute Schwellung von Freitagabend war fast vollständig verschwunden.
»Also, Lady – heraus mit der Sprache.«
»Ich weiß nicht recht, ob ich es dir erzählen sollte«, sagte sie. »Es ist mir ein bißchen peinlich.«
Sie blieben stehen und winkten Rosalie zu, die in ihrem alten blauen Toyota an ihnen vorbeifuhr.
»Nun komm schon«, sagte Alan. »Gestehe.«
»Wahrscheinlich«, sagte sie, »liegt es daran, daß ich endlich den richtigen Arzt gefunden habe.«
Langsam kam wieder Farbe in ihre Wangen.
»Und wer ist das?«
»Dr. Gaunt«, sagte sie mit einem nervösen Auflachen.
»Dr. Leland Gaunt.«
» Gaunt! « Er sah sie verblüfft an. »Was hat er mit deinen Händen zu tun?«
»Fahr mich zu seinem Laden hinunter, dann erzähle ich es dir unterwegs.«
4
Fünf Minuten später (zu den angenehmsten Dingen des Lebens in Castle Rock gehört es, dachte Alan, daß so ziemlich alles nur fünf Minuten entfernt war) lenkte er seinen Wagen in eine der schrägen Parkbuchten vor Needful Things. Im Fenster hing ein Schild, eines, das Alan schon früher gesehen hatte:
DIENSTAGS UND DONNERSTAGS NUR AUF VERABREDUNG
Plötzlich schoß es Alan – der bis jetzt nicht an diesen Aspekt des neuen Ladens gedacht hatte – durch den Kopf, daß das Schließen außer »auf Verabredung« eine überaus merkwürdige Art war, in einer kleinen Stadt Geschäfte zu machen.
»Alan?« fragte Polly schüchtern. »Du siehst aus, als wärest du wütend.«
»Ich bin nicht wütend«, sagte er. »Worüber sollte ich wütend sein? Die Wahrheit ist, daß ich nicht so recht weiß, was ich denken soll.« Er lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Quacksalberei? Das paßt einfach nicht zu dir, Polly.«
Ihre Lippen preßten sich sofort zusammen, und als sie sich zu ihm umdrehte, lag eine Warnung in ihren Augen. »Quacksalberei ist nicht das Wort, das ich gebraucht hätte. Das sind die Dinge, die auf den letzten Seiten von Inside View angeboten werden. Wenn etwas seine Wirkung tut, ist >Quacksalberei< das falsche Wort. Oder irre ich mich da?«
Er öffnete den Mund, um zu sagen, daß er nicht sicher war, aber sie redete weiter, bevor er etwas sagen konnte.
»Sieh dir das an.« Sie hielt ihre Hände in das durch die Windschutzscheibe hereinflutende Sonnenlicht und ballte sie mehrmals zur Faust.
»Also gut. Schlechte Wortwahl. Was ich...«
»Ja, das würde ich auch sagen. Eine sehr schlechte Wortwahl.«
»Tut mir leid.«
Sie drehte sich so weit um, daß sie ihm voll ins Gesicht schauen konnte. Sie saß in dem Wagen, der einst das Familienauto der Pangborns gewesen war, auf dem Platz, auf dem Annie früher immer gesessen hatte. Warum habe ich die Kiste noch nicht verkauft? fragte sich Alan. Was bin ich – verrückt?
Polly legte ihre Hände sanft auf die von Alan. »Das fängt an, ungemütlich zu werden – wir haben uns noch nie gestritten, und ich habe nicht die Absicht, jetzt damit anzufangen. Ich habe heute eine gute Gefährtin begraben. Und ich denke nicht daran, mich obendrein noch auf einen Streit mit meinem Boyfriend einzulassen.«
Ein langsam aufdämmerndes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ist es das, was ich bin? Dein Boyfriend?«
»Nun – du bist mein Freund . Das darf ich doch wohl sagen?«
Er nahm sie in die Arme, ein wenig verblüfft, wie nahe sie dem Wechseln harter Worte gekommen waren. Und das nicht, weil sie sich schlechter fühlte – nein, sondern weil sie sich besser fühlte.
»Liebling, du kannst sagen, was du möchtest. Ich liebe dich.«
»Und wir werden uns nicht streiten, was auch passiert.«
Er nickte feierlich. »Was auch passiert.«
»Weil ich dich nämlich auch liebe, Alan.«
Er küßte sie auf die Wange, dann gab er sie frei. »Laß mich dieses Ding sehen, das er dir
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