In einer kleinen Stad
ersten Schüler die Straße herab, rufend, hüpfend, lachend. Plötzlich kam Alan eine Idee, und er öffnete die Fahrertür des Kombis. Er griff über den Sitz hinweg, öffnete das Handschuhfach und tastete darin herum. Zunächst vergeblich. Er wollte schon aufgeben, aber dann fand er doch noch, was er gesucht hatte. Er nahm es, schloß das Handschuhfach und kam wieder aus dem Wagen heraus. Er hielt einen kleinen Umschlag in der Hand; darauf klebte ein Etikett mit der Aufschrift:
The Folding Flower Trick
Blackstone Magic Co.
19 Greer St.
Paterson, N. J.
Aus diesem Umschlag zog Alan ein noch kleineres Quadrat – einen dicken Block aus vielfarbigem Seidenpapier, den er unter das Armband seiner Uhr schob. Alle Illusionisten haben an ihrer Person und in ihrer Kleidung eine Reihe von »Zauberstellen«, und jeder gibt einer dieser Stellen den Vorzug. Bei Alan war es das Uhrarmband.
Nachdem er sich um die berühmten »Aufblühenden Blumen« gekümmert hatte, hielt er wieder Ausschau nach Brian Rusk. Er sah einen Jungen auf einem Fahrrad, der tollkühn zwischen Gruppen von Fußgängern hindurchsauste, und war sofort hellwach. Dann sah er, daß es einer von den Hanlon-Zwillingen war, und entspannte sich wieder.
»Fahr langsamer, sonst bekommst du einen Strafzettel«, knurrte Alan, als der Junge an ihm vorüberschoß. Jay Hanlon sah ihn erschrocken an und wäre fast gegen einen Baum gefahren. Danach fuhr er in wesentlich gemächlicherem Tempo weiter.
7
Fünf Minuten nachdem die Drei-Uhr-Glocke geläutet hatte, stieg Sally Ratcliffe die Stufen von ihrem kleinen Sprechtherapie-Zimmer zum Erdgeschoß der Middle School hinauf und ging durch die Haupthalle zum Büro hinüber. In der Hand hielt sie einen steifen Briefumschlag. Der Name auf diesem Umschlag, Mr. Frank Jewett, war ihrer sanft gerundeten Brust zugekehrt.
Vor der Tür von Zimmer 6, das direkt neben dem Büro lag, blieb sie stehen und schaute durch das Drahtglas hinein. Drinnen redete Mr. Jewett mit dem halben Dutzend Lehrern, die für den Sportunterricht im Herbst und Winter zuständig waren. Frank Jewett war ein dicklicher kleiner Mann, der Sally immer an Mr. Weatherbee erinnerte, den Schuldirektor in den Archie-Comics. Genau wie Mr. Weatherbee rutschte auch ihm immer die Brille von der Nase herunter.
Rechts neben ihm saß Alice Tanner, die Schulsekretärin. Wie es schien, machte sie sich Notizen.
Mr. Jewett sah nach links, entdeckte Sally und bedachte sie mit seinem üblichen gezierten Lächeln. Sie hob eine Hand zum Gruß und zwang sich, das Lächeln zu erwidern. Sie konnte sich an die Zeit erinnern, in der Lächeln für sie etwas ganz Natürliches gewesen war; nach dem Beten war das Lächeln für sie die natürlichste Sache der Welt gewesen.
Einige der anderen Lehrer schauten auf, um zu sehen, wem der Blick ihres furchtlosen Anführers galt. Das gleiche tat Alice Tanner. Alice grüßte, indem sie mit den Fingern wackelte und saccharinsüß lächelte.
Sie wissen es, dachte Sally. Alle wissen es, daß Lester und ich Geschichte sind. Irene war so reizend gestern abend – so mitfühlend – und so begierig, es allen möglichen Leuten zu erzählen. Dieses kleine Biest.
Sally wackelte gleichfalls mit den Fingern und spürte, wie ein unechtes Lächeln ihre Lippen spannte. Ich hoffe, du wirst auf dem Heimweg von einem Müllauto überfahren, du kleine Schlampe, dachte sie. Dann ging sie weiter, und ihre vernünftig flachen Absätze klickten und klackten.
Als Mr. Gaunt sie in ihrer Freistunde angerufen und ihr gesagt hatte, daß es jetzt Zeit wäre, ihre Restschuld für den wundervollen Splitter zu begleichen, hatte Sally mit Begeisterung und einer Art saurer Freude reagiert. Sie hatte das Gefühl, daß der »kleine Streich«, den Mr. Jewett zu spielen sie versprochen hatte, ein niederträchtiger war, und dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Ihr war heute nach Niedertracht zumute.
Sie streckte die Hand nach der Bürotür aus – und hielt dann inne.
Was ist los mit dir? fragte sie sich plötzlich. Du hast den Splitter – den wundervollen, heiligen Splitter mit der wundervollen, heiligen Vision, die in ihm steckt. Sollten Dinge dieser Art nicht bewirken, daß ein Mensch sich besser fühlt? Ruhiger? Näher bei Gott dem Allmächtigen? Du fühlst dich nicht ruhiger und niemandem näher. Du fühlst dich, als hättest du den Kopf voll Stacheldraht.
»Ja, aber daran bin nicht ich schuld und auch nicht der Splitter«, murmelte Sally. »Daran ist Lester
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