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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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erschien ein Ausdruck, in dem sich Schuldbewußtsein und Verblüffung mischten.
    »Himmel! Ich habe die Zeitung gelesen und es vergessen. Ich hole sie.« Er tastete bereits nach seinen Schuhen.
    »Laß nur«, sagte sie und machte sich auf den Weg in die Küche.
    «Wilma, ich hole sie!«
    »Mach dir keine Mühe«, sagte sie honigsüß. »Ich möchte nicht, daß du deine Zeitung oder Vanna White im Stich läßt, nur weil ich die letzten sechs Stunden an der Kasse gesessen habe. Bleib ruhig sitzen, Pete. Mach es dir gemütlich.«
    Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um seine Reaktion zu beobachten; nach sieben Jahren Ehe war sie felsenfest davon überzeugt, daß Pete Michael Jerzyck ihr keine Überraschungen mehr zu bieten hatte. Seine Miene würde eine Mischung aus Verletztheit und leichtem Verdruß sein. Nachdem sie hinausgegangen war, würde er noch ein paar Augenblicke stehenbleiben und aussehen wie ein Mann, der gerade auf der Toilette war und nicht mehr weiß, ob er sich den Hintern abgewischt hat oder nicht; dann würde er an die Arbeit gehen, den Tisch decken und den Auflauf aus dem Ofen holen. Er würde ihr viele Fragen stellen über ihre Schicht im Markt, aufmerksam ihren Antworten lauschen und sie kein einziges Mal unterbrechen, um ihr Einzelheiten über seinen eigenen Tag bei Williams-Brown mitzuteilen, der großen Maklerfirma in Oxford, für die er arbeitete. Was Wilma nur recht war – für sie war das Grundstücksgeschäft das Langweiligste, das sie sich überhaupt vorstellen konnte. Nach dem Essen würde er unaufgefordert den Tisch abräumen und abwaschen, und sie würde die Zeitung lesen. All diese Dienste würde er leisten, weil er eine Kleinigkeit vergessen hatte. Es machte ihr überhaupt nichts aus, die Wäsche selbst hereinzuholen – im Gegenteil, sie liebte die Griffigkeit und den Duft von frischer Wäsche, die in der Sonne trocknend einen glücklichen Nachmittag verbracht hatte -, aber sie hatte nicht die Absicht, Pete das wissen zu lassen. Das war ihr kleines Geheimnis.
    Sie hatte eine Menge derartiger Geheimnisse, und sie wahrte sie alle aus dem gleichen Grund: in einem Krieg nutzte man jeden Vorteil aus. An manchen Abenden kam sie nach Hause, und es folgten ein oder auch zwei Stunden Scharmützel, bis sie Pete so weit hatte, daß er den Rückzug antrat und sie seine weißen Stecknadeln auf ihrer inneren Schlachtenkarte durch ihre roten ersetzen konnte. Heute hatte sie den Kampf schon nach weniger als zwei Minuten nach ihrem Eintreten gewonnen und das freute Wilma.
    Im Grunde ihres Herzens hielt sie die Ehe für ein lebenslanges Abenteuer der Aggression, und befürchtete, daß bei einem so langen Feldzug, bei dem letzten Endes keine Gefangenen gemacht, kein Pardon gegeben, kein Flecken ehelicher Landschaft unversengt bleiben konnte, derart leichte Siege eines Tages vielleicht ihren Reiz verlieren würden. Aber noch war dieser Zeitpunkt nicht gekommen, und so ging sie hinaus zu den Wäscheleinen mit dem Korb unter dem linken Arm und einem leichten Herzen unter dem fülligen Busen.
    Sie hatte den Garten schon halb durchquert, als sie verblüfft stehenblieb. Wo zum Teufel waren die Laken?
    Sie hätte sie ohne weiteres sehen müssen, große, weiße Rechtecke, die in der Dunkelheit schwebten. Aber sie waren nicht da. Waren sie vielleicht weggeweht worden? Lächerlich! Am Nachmittag hatte zwar eine leichte Brise geweht, aber kein Sturm. Hatte jemand sie gestohlen?
    Dann fegte eine leichte Bö durch die Luft, und sie hörte ein träge flappendes Geräusch. Okay, da waren sie – irgendwo . Wenn man die älteste Tochter einer katholischen Sippe von dreizehn Kindern war, dann wußte man, wie sich ein auf einer Leine flappendes Laken anhört. Aber das Geräusch klang irgendwie nicht richtig. Es war zu dumpf.
    Wilma trat einen weiteren Schritt vorwärts. Eine vage Ahnung sagte ihr, daß es Ärger geben würde. Jetzt konnte sie die Laken sehen – oder Dinge, die eigentlich die Laken hätten sein müssen. Aber sie waren dunkel .
    Sie tat einen weiteren, kleineren Schritt vorwärts, und dann fegte die Brise wieder durch den Garten. Diesmal flappten die dunklen Rechtecke auf sie zu, wogten vorwärts, und bevor sie die Hand heben konnte, wurde sie von etwas Schwerem und Glitschigem getroffen. Etwas Matschiges spritzte auf ihre Wangen; etwas Weiches und Schlammiges drückte sich an sie. Es war fast, als versuchte eine kalte, klebrige Hand nach ihr zu greifen.
    Sie gehörte nicht zu den Frauen, die bei jeder

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