In einer kleinen Stad
junge Leute immer, und ich nehme an, es ist für ihre Eltern immer eine traurige Überraschung.«
»Trotzdem kommt es mir sehr früh vor«, sagte Polly leise. »Mit siebzehn muß man sich noch nicht von etwas trennen.«
»Es ist zu früh«, sagte Alan. In seiner Stimme klang eine Spur von Zorn. »Er hat seine Mutter und seinen Bruder bei einem dummen Unfall verloren. Sein Leben flog auseinander, mein Leben flog auseinander, und wir kamen auf die Art zusammen, auf die Väter und Söhne in derartigen Situationen vermutlich immer zusammenkommen, um festzustellen, ob es uns gelingen würde, den größten Teil der Trümmer wiederzufinden. Ich glaube, es ist uns halbwegs gelungen, aber ich müßte blind sein, um nicht zu wissen, daß sich vieles geändert hat. Mein Leben ist hier, Polly, in Castle Rock. Aber seines nicht mehr. Ich dachte, es könnte vielleicht wieder dazu kommen, aber der Ausdruck, der in seinen Augen erschien, als ich ihm vorschlug, im Herbst auf die Castle Rock High überzuwechseln, belehrte mich sehr rasch eines Besseren. Er möchte nicht hierher zurückkommen, weil es hier zu viele Erinnerungen gibt. Ich denke, das wird sich vielleicht ändern – im Laufe der Zeit -, und fürs erste werde ich ihn nicht bedrängen. Aber das hat nichts mit dir und mir zu tun. Okay?«
»Okay, Alan?«
»Ja?«
»Du vermißt ihn, nicht wahr?«
»Ja«, gab Alan unumwunden zu. »Jeden Tag.« Mit Bestürzung stellte er fest, daß er plötzlich den Tränen nahe war. Er wendete sich ab und öffnete aufs Geratewohl einen Schrank, versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Das war am leichtesten zu bewerkstelligen, wenn er die Unterhaltung auf ein anderes Thema brachte, und zwar schnell. »Wie geht es Nettie?« fragte er und war erleichtert, daß seine Stimme sich normal anhörte.
»Sie sagte, es ginge ihr schon wesentlich besser, aber es dauerte eine Ewigkeit, bis sie den Hörer abnahm – vor meinem geistigen Auge sah ich sie bewußtlos auf dem Boden liegen.«
»Wahrscheinlich hat sie geschlafen.«
»Sie sagte nein, und sie hörte sich auch nicht so an. Du weißt doch, wie sich Leute anhören, wenn das Telefon sie aufgeweckt hat?«
Er nickte. Auch das war eine Polizisten-Erfahrung. Er hatte eine Menge Telefongespräche geführt, die jemandes Schlaf unterbrochen hatten.
»Sie sagte, sie hätte gerade etwas von dem alten Kram ihrer Mutter im Holzschuppen durchgesehen, aber...«
»Wenn sie eine Darmgrippe hat, saß sie wahrscheinlich gerade auf dem Klosett und wollte es nicht zugeben«, sagte Alan trocken.
Sie dachte einen Moment darüber nach, dann lachte sie. »Ich wette, das war es. Sähe ihr ähnlich.«
»So ist es«, sagte er. Alan schaute in den Ausguß, dann zog er den Stöpsel heraus. »Liebling, der Abwasch ist erledigt.«
»Danke, Alan.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange.
»Sieh mal, was ich gefunden habe«, sagte Alan. Er griff hinter ihr Ohr und zog ein Fünfzig-Cent-Stück hervor. »Hebst du dein Geld immer da auf, meine Hübsche?«
»Wie machst du das?« fragte sie und betrachtete fasziniert die Münze.
»Wie ich das mache?« Das Fünfzig-Cent-Stück schien über die sanft rüttelnden Knöchel seiner rechten Hand hinwegzuschweben. Er faßte die Münze zwischen dem Mittel- und dem Ringfinger und drehte die Hand um. Als er sie dann wieder zurückdrehte, war die Münze verschwunden. »Findest du, ich sollte weglaufen und zum Zirkus gehen?« fragte er sie.
Sie lächelte. »Nein – bleib hier bei mir. Alan, findest du es albern, daß ich mir Netties wegen Sorgen mache?«
»Nein«, sagte Alan. Er steckte die linke Hand – die, in die er das Fünfzig-Cent-Stück befördert hatte – in die Hosentasche, zog sie leer wieder heraus und ergriff ein Geschirrtuch. »Du hast sie aus der Klapsmühle geholt, du hast ihr einen Job gegeben, und du hast ihr geholfen, ein Haus zu kaufen. Du fühlst dich für sie verantwortlich, und ich nehme an, bis zu einem gewissen Grade bist du das auch. Wenn du dir ihretwegen keine Sorgen machen würdest, würde ich mir vermutlich deinetwegen Sorgen machen.«
Sie nahm das letzte Glas vom Ablaufbrett. Alan sah die plötzliche Bestürzung auf ihrem Gesicht und wußte, daß sie nicht imstande sein würde, es zu halten. Er bewegte sich schnell, beugte die Knie und streckte die Hand aus – eine Bewegung, die Polly fast vorkam wie ein Tanzschritt. Das Glas fiel und landete in seiner Hand, keine vierzig Zentimeter über dem Boden.
Der Schmerz, der sie die
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