In einer kleinen Stad
sie sprach so ungern darüber wie Polly über ihre Arthritis. Dann, eines Tages, als er sich gerade rasierte – es mußte Anfang 1990 gewesen sein -, fiel Alan auf, daß bei dem Familienglas Anacin 3, das neben dem Badezimmer-Waschbecken stand, der Deckel nicht aufgeschraubt war. Er wollte den Deckel aufschrauben – dann hielt er inne. Ende der vorigen Woche hatte er ein paar Kapseln aus dem Glas genommen, das zweihundertfünfundzwanzig Stück enthalten hatte. Da war es noch fast voll gewesen. Jetzt war es fast leer. Er hatte sich den Rest des Rasierschaums aus dem Gesicht gewischt und war hinübergegangen zu You Sew and Sew, wo Annie arbeitete, seit Polly das Geschäft eröffnet hatte. Er nahm seine Frau mit zu einer Tasse Kaffee – und ein paar Fragen. Er fragte sie nach den Kapseln. Er erinnerte sich, daß er ein bißchen besorgt war
(nur ein bißchen , pflichtete die innere Stimme ihm traurig bei),
aber nur ein bißchen, denn niemand nimmt hundertneunzig Kapseln Anacin in einer einzigen Woche; niemand . Annie erklärte ihm, er wäre albern. Sie hätte die Ablage neben dem Waschbecken abgewischt, sagte sie, und dabei das Glas umgestoßen. Der Deckel wäre nicht fest zugeschraubt gewesen, und der größte Teil der Kapseln wäre in das Becken gefallen. Sie wären aufgeweicht, und sie hätte sie weggeworfen.
Sagte sie.
Aber er war Polizist, und selbst wenn er dienstfrei hatte, konnte er die Gewohnheit des genauen Beobachtens, die zu seinem Beruf gehörte, nicht ablegen. Er konnte den Lügendetektor nicht abschalten. Wenn man beobachtete, wie Leute die Fragen beantworteten, die man ihnen stellte, sie wirklich beobachtete, dann wußte man fast immer, ob sie logen oder nicht. Alan hatte einmal einen Mann verhört, der jede Lüge, die er aussprach, damit signalisierte, daß er mit dem Daumennagel seinen Eckzahn antippte. Der Mund artikulierte die Lügen; der Körper war, wie es schien, dazu verdammt, die Wahrheit zu sagen. Also hatte er die Hand über den Tisch in der Nische von Nan’s Luncheonette, an dem sie saßen, ausgestreckt, hatte Annies Hand ergriffen und sie aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Und als sie ihm, nach kurzem Zögern, gestanden hatte, ja, die Kopfschmerzen wären tatsächlich ein wenig schlimmer geworden, und ja, sie hätte tatsächlich eine Menge Kapseln genommen, aber nein, nicht die ganzen Kapseln, die fehlten, die Flasche wäre tatsächlich umgekippt, da hatte er ihr geglaubt. Er war auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen, den, den die Ganoven Ködern und Ablenken nennen: Wenn man lügt und dabei erwischt wird, macht man einen Rückzieher und sagt die halbe Wahrheit. Hätte er sie genauer beobachtet, dann hätte er gewußt, daß Annie noch immer nicht ehrlich war. Er hätte sie gezwungen, etwas zuzugeben, das ihm praktisch unmöglich vorkam, das aber, wie er jetzt glaubte, die Wahrheit gewesen war: daß die Kopfschmerzen ihr so sehr zusetzten, daß sie täglich mindestens zwanzig Tabletten nahm. Und wenn sie das zugegeben hätte, dann hätte er sie, noch bevor die Woche um war, in die Praxis eines Neurologen in Portland oder Boston geschleppt. Aber sie war seine Frau, und damals beobachtete er, wenn er dienstfrei hatte, noch nicht ganz so genau.
Er hatte sich damit begnügt, für sie einen Termin bei Ray Van Allen abzumachen, und sie war auch hingegangen. Ray hatte nichts gefunden, und Alan hatte ihm nie einen Vorwurf daraus gemacht. Ray hatte die üblichen Reflexuntersuchungen durchgeführt, hatte ihr mit seinem vertrauenswürdigen Ophtalmoskop in die Augen geschaut, hatte ihr Sehvermögen getestet, um festzustellen, ob sie irgend etwas doppelt sah, und hatte sie zum Röntgen ins Oxford Regional geschickt. Er hatte jedoch keine Computer-Tomographie verlangt, und als Annie sagte, ihre Kopfschmerzen hätten aufgehört, hatte er ihr geglaubt. Alan argwöhnte, daß er vielleicht recht daran getan hatte, ihr zu glauben. Er wußte, daß Ärzte die Körpersprache des Lügens ebenso genau wahrnahmen wie Polizisten. Patienten neigen ebensosehr zum Lügen wie Tatverdächtige, und aus dem gleichen Motiv: aus simpler Angst. Und als Ray Annie sah, hatte er nicht dienstfrei gehabt. Annie hatte Dr. Van Allen aufgesucht, die Kopfschmerzen hatten aufgehört. Wahrscheinlich hatten sie aufgehört. Ray hatte Alan später gesagt, während eines langen Gesprächs bei einem Glas Brandy in der Wohnung des Doktors in Castle View, daß in Fällen, in denen der Tumor hoch oben am Hirnstamm saß, die
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