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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Menschengeschlecht mit ihm teilen müßten, eine andere Vorstellung, daß die Angehörigen des Leidenden nicht weiterleben wollten, wenn er tot wäre. Scopes erwähnte Charles Whitman, den Eagle Scout, der auf die Spitze des Texas Tower geklettert war und mehr als vierundzwanzig Menschen umgebracht hatte, bevor er sich selbst tötete, und eine Volksschullehrerin in Illinois, die mehrere ihrer Schülerinnen umgebracht hatte, bevor sie nach Hause ging und sich eine Kugel in den Kopf schoß. In beiden Fällen hatte die Autopsie einen Gehirntumor ans Licht gebracht. Es war ein Muster, wenn es auch nicht in allen Fällen sichtbar wurde. Gelegentlich traten bei Gehirntumoren seltsame, sogar absurde Symptome auf; gelegentlich gab es überhaupt keine Symptome. Es war unmöglich, definitive Aussagen zu machen.
    Unmöglich. Also laß es dabei bewenden.
    Guter Rat, aber schwer zu befolgen. Wegen des Anacin-Glases. Und des Sicherheitsgurtes.
    Vor allem war es der Sicherheitsgurt, der im Hintergrund von Alans Bewußtsein hing – eine kleine schwarze Wolke, die einfach nicht verschwinden wollte. Sie fuhr nie , ohne ihn anzulegen. Nicht einmal bis ans Ende des Blocks und zurück. Und Todd war angeschnallt gewesen, genau wie immer. Hatte das nicht irgendetwas zu bedeuten? Wenn sie irgendwann, nach dem letzten Zurücksetzen aus der Auffahrt, beschlossen hatte, sich umzubringen und Todd mitzunehmen – hätte sie dann nicht darauf bestanden, daß Todd seinen Gurt gleichfalls nicht anlegte? Selbst schmerzgepeinigt, deprimiert, verwirrt, hätte sie doch nicht gewollt, daß Todd leidet, oder?
    Unmöglich, definitive Aussagen zu machen. Laß es dabei bewenden .
    Selbst jetzt, da er in Pollys Bett lag und Polly neben ihm schlief, fiel es ihm schwer, diesen Rat zu beherzigen. Sein Verstand arbeitete weiter daran wie ein Welpe, der mit seinen scharfen kleinen Zähnen unermüdlich auf einem zerfetzten alten Lederlappen herumkaut.
    An diesem Punkt hatte ihm immer ein Bild vor Augen gestanden, ein alptraumhaftes Bild, das ihn schließlich zu Polly Chalmers getrieben hatte. Polly war die Frau, die Annie in der ganzen Stadt am besten gekannt hatte – und in Anbetracht der Beaumont-Geschichte und der psychischen Belastung, die sie für Alan mit sich gebracht hatte, war Polly in den letzten paar Monaten ihres Lebens wahrscheinlich mehr für Annie dagewesen als er selbst.
    Das Bild war das, wie Annie den Verschluß ihres eigenen Sicherheitsgurtes löste, das Gaspedal durchtrat und ihre Hände vom Lenkrad nahm. Sie vom Lenkrad nahm, weil sie in diesen letzten paar Sekunden eine andere Arbeit zu erledigen hatten.
    Sie vom Lenkrad nahm, um auch Todds Sicherheitsgurt zu lösen.
    Das war das Bild: der Scout, der mit hundertzehn Stundenkilometern auf der Straße dahinraste, auf die Bäume zu, unter einem weißen Märzhimmel, der Regen versprach, während Annie sich bemühte, Todds Sicherheitsgurt zu lösen, und Todd, schreiend und verängstigt, versuchte, ihre Hände beiseitezuschieben. Er sah Annies geliebtes Gesicht verwandelt in die häßliche Maske einer Hexe, sah Todds Gesicht vor Entsetzen verzerrt. Manchmal wachte er mitten in der Nacht auf, eingehüllt in ein feuchtkaltes Hemd aus Schweiß, und Todds Stimme dröhnte ihm in den Ohren: Die Bäume, Mommy! Paß auf – die BÄUME!
    Also war er eines Tages kurz vor Ladenschluß zu Polly gegangen und hatte sie gefragt, ob sie auf einen Drink zu ihm kommen wollte oder, wenn sie dabei kein gutes Gefühl hätte, ob er in ihr Haus kommen dürfte.
    Sie hatten in seiner Küche gesessen, mit einem Becher Tee für sie und einem Kaffee für ihn, und er hatte ihr, langsam und stotternd, von seinem Alptraum erzählt.
    »Ich muß wissen, wenn es möglich ist, ob sie Perioden der Depression oder der Irrationalität hatte, von denen ich entweder nichts wußte oder die ich nicht bemerkt habe«, sagte er. »Ich muß wissen, ob...« Er brach ab, vorübergehend hilflos. Er wußte, welche Worte er sprechen mußte, aber es fiel ihm immer schwerer, sie zu formulieren. Es war, als würde der Kanal der Kommunikation zwischen seinem unglücklichen, verwirrten Verstand und seinem Mund immer schmaler und seichter und bald vollends für die Schiffahrt gesperrt werden.
    Es kostete ihn eine große Anstrengung, fortzufahren.
    »Ich muß wissen, ob sie mit Selbstmordgedanken umging. Weil es nicht nur Annie war, die gestorben ist. Todd ist mit ihr gestorben, und wenn es Abzeichen – Anzeichen meine ich, Anzeichen dafür gegeben

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