In einer Person
und Geschäftsführer des Sägewerks sah Grandpa Harry darüber hinweg,
dass sie die Sekretärinnenschule abgebrochen hatte – ihm genügten ihre
Fähigkeiten beim Maschineschreiben.
Bestimmt wurde über meine Mutter geredet – unter den Arbeitern im
Sägewerk, meine ich. Was die über sie sagten, drehte sich nicht ums
Maschineschreiben, und bestimmt hatten sie diese Dinge zuerst von ihren Frauen
oder Freundinnen gehört; zwar war den Sägewerksarbeitern aufgefallen, dass
meine Mom schön war, aber zweifellos waren es ihre Frauen, die über Mary
Marshall Dean redeten und deren Bemerkungen im Holzlager kursierten – oder
(noch gefährlicher) in den Holzfällercamps.
Ich sage »noch gefährlicher«, weil Nils Borkman die Holzfällercamps
beaufsichtigte. Dort verletzten sich ständig Männer, aber »verletzten sich«
manche auch, weil sie Bemerkungen über meine Mom machten? Auch im Holzlager kam
ständig der eine oder andere Mann zu Schaden – bestimmt war das gelegentlich
einer, der wiederholte, was er seine Frau oder Freundin über meine Mutter hatte
sagen hören. (Ihr sogenannter Ehemann habe sich keineswegs beeilt, sie zu
ehelichen; er habe nie mit ihr zusammengelebt, ob verheiratet oder nicht, und dieser Junge habe keinen Vater – solche Bemerkungen fielen
vermutlich über meine Mom.)
[52] Grandpa Harry war kein Kämpfer; ich nehme an, dass Nils Borkman
für seinen geschätzten Geschäftspartner eintrat, und für meine Mutter auch.
»Er kann sechs Wochen lang nicht arbeiten… nicht mit einem kaputten
Schlüsselbein, Nils«, hatte ich Grandpa Harry sagen hören. »Jedes Mal, wenn du
jemanden ›zur Räson‹ bringst, wie du es nennst, müssen wir eine Entschädigung
zahlen!«
»Wir können uns die Entschädigung leisten, Harry – im nächsten Mal
wird er aufpassen, was er sagt, stimmt’s?«, sagte Nils dann.
»›Beim nächsten Mal‹, Nils«, korrigierte daraufhin Grandpa Harry
seinen alten Freund.
Meine Mom war nicht nur ein paar Jahre jünger als ihre mäkelige
Schwester Muriel, in meinen Augen war meine Mutter auch die bei weitem hübschere
der beiden Marshall-Mädchen. Es machte nichts, dass meiner Mom Muriels
Walkürenbusen und volltönende Opernstimme fehlten. Mary Marshall Dean war viel
wohlproportionierter. Ich fand, sie sah beinahe wie eine Asiatin aus – nicht
nur weil sie so zierlich war, sondern auch wegen ihres herzförmigen Gesichts
und weil ihre Augen so auffallend weit offen (und auseinander) standen, von
ihrem frappierend kleinen Mund ganz zu schweigen.
»Ein Juwel«, hatte Richard Abbott über sie gesagt, als sie sich
kennenlernten, »a jewel«. Und so nannte er sie
schließlich – nicht »Mary«, einfach nur »Jewel«. Der Name blieb hängen.
Und wie lange, nachdem sie miteinander gingen, dauerte es, bis
Richard Abbott herausfand, dass ich keinen eigenen [53] Bibliotheksausweis besaß?
(Nicht lange; es war noch Anfang Herbst, weil sich die Blätter gerade erst zu
verfärben begannen.)
Meine Mom hatte Richard gebeichtet, ich sei kein großer Leser,
woraufhin Richard herausfand, dass meine Mutter und Großmutter aus unserer
Stadtbibliothek Bücher mit nach Hause brachten, damit ich sie las – was ich
dann meistens nicht tat.
Die anderen Bücher, die in meinem Leben auftauchten, überließ mir
meine anmaßende Tante Muriel, meist Liebesromane, die meine ruppige ältere
Cousine gelesen und für schlecht befunden hatte. Gelegentlich verlieh Cousine
Geraldine ihrer Verachtung für diese Liebesromane (oder deren Hauptpersonen) am
Seitenrand Ausdruck.
Gerry – nur Tante Muriel und meine Großmutter nannten sie jemals Geraldine – war drei Jahre älter als ich. In dem Herbst,
als Richard Abbott und meine Mom ihre Beziehung begannen, war ich dreizehn und
Gerry sechzehn. Da Gerry ein Mädchen war, durfte sie die Favorite River Academy
nicht besuchen. Sie war ausgesprochen wütend, dass die Academy eine reine
Jungenschule war, deshalb wurde sie nämlich allmorgendlich mit dem Bus nach
Ezra Falls gebracht, wo es die nächste staatliche Highschool für den Ort First
Sister gab.
Ein Teil von Gerrys Hass auf Jungs hielt auch in den Randnotizen
Einzug, die sie zu den gebrauchten Liebesromanen beisteuerte; auch ein Teil
ihrer Verachtung für Mädchen, die verrückt nach Jungs waren, schlug sich in
ihren Randnotizen nieder. Jedes Mal, wenn ich von Tante Muriel einen dieser
gebrauchten Liebesromane bekam, las ich [54] umgehend Gerrys Kommentare. Die
Romane an sich waren
Weitere Kostenlose Bücher