In einer Person
sterbenslangweilig. Doch neben der einschläfernden
Beschreibung des ersten Kusses der Heldin schrieb Gerry an den Rand: »Küss mich ! Ich bring dein Zahnfleisch zum Bluten! Ich sorg
dafür, dass du dich einpisst !«
Die Heldin war eine selbstgefällige Schnepfe, die sich von ihrem
Freund nie an den Busen fassen ließ, was Gerry zu der Randnotiz veranlasste:
»Ich würde dir die Titten wundreiben ! Versuch doch,
mich daran zu hindern!«
Die Bücher, die meine Mutter und meine Großmutter aus der
Stadtbücherei von First Sister mitbrachten, waren (wenn es hoch kam)
Abenteuerromane: Seefahrerromane, gern mit Piraten, oder Western von Zane Grey;
am allerschlimmsten waren die extrem unglaubhaften Science-Fiction-Geschichten.
Merkten meine Mom und Nana Victoria denn nicht, dass mich schon das
Leben auf der Erde verwirrte und ängstigte? Ich brauchte keine Anregungen aus
fernen Galaxien und von unbekannten Planeten. Und bereits die Gegenwart war mir
unbegreiflich genug, ganz zu schweigen von dem täglichen Schrecken,
missverstanden zu werden; schon über die Zukunft nachzudenken war für mich ein
Alptraum.
»Warum sucht sich denn Bill nicht selbst die Bücher aus, die er
lesen möchte?«, fragte Richard Abbott meine Mutter. »Bill, du bist doch
dreizehn? Was interessiert dich denn so?«
Von meinem Grandpa Harry und meinem immer freundlichen Onkel Bob
(dem mutmaßlichen Trinker) abgesehen, hatte mir noch nie jemand diese Frage gestellt.
Gern las ich nur die Theaterstücke, die gerade von den First [55] Sister Players
geprobt wurden; ich stellte mir vor, dass ich diese Stücke Wort für Wort
auswendig lernen konnte, genau wie es meine Mutter tat. Eines Tages, wenn meine
Mom krank war oder einen Autounfall hatte, könnte ich sie vielleicht als
Souffleur ersetzen, bildete ich mir ein.
»Billy!«, sagte meine Mutter und lachte auf ihre typische Art, die
man für unschuldig hätte halten können. »Sag Richard, was dich interessiert.«
»Ich interessiere mich für mich «, sagte
ich. »Welche Bücher gibt es über jemanden wie mich?«, fragte ich Richard
Abbott.
»Oh, du wärst überrascht, Bill«, sagte Richard zu mir. »Den Übergang
von der Kindheit zur Adoleszenz – das Erwachsenwerden – haben viele großartige
Romane erkundet. Na komm, sehen wir mal nach.«
»Um diese Uhrzeit? Wo denn nachsehen?«, fragte
meine Großmutter irritiert. Dieses Gespräch fand nach einem frühen Abendessen
vor einem Schultag statt – draußen war es noch nicht ganz dunkel. Wir saßen
noch um den Esszimmertisch.
»Richard kann mit Bill doch in unsere kleine Stadtbibliothek gehen,
Vicky«, sagte Grandpa Harry. Nana sah aus, als hätte sie eine Ohrfeige
bekommen; sie war so sehr eine Victoria (wenn auch
nur in ihrer eigenen Vorstellung), dass niemand außer Grandpa sie »Vicky«
nannte, und wenn er es tat, reagierte sie jedes Mal verschnupft. »Jede Wette,
dass Miss Frost die Bibliothek abends meist bis neun Uhr offen lässt«, ergänzte
Harry.
» Miss Frost!«, wiederholte meine
Großmutter offensichtlich angewidert.
[56] »Also wirklich – Toleranz, Vicky, Toleranz«, sagte mein
Großvater.
»Komm schon«, forderte Richard mich auf. »Wir besorgen dir jetzt
deinen eigenen Bibliotheksausweis – das ist ein Anfang. Dann kommen die Bücher
dran; wenn ich raten müsste, bald werden sich die Bücher bei dir nur so türmen. «
»Türmen!«, rief meine Mom vergnügt, aber durchaus
ungläubig. »Du kennst Billy nicht, Richard – er ist kein großer Leser.«
»Wir werden ja sehen, Jewel«, erwiderte Richard, doch dabei
zwinkerte er mir zu. Ich schwärmte ganz schrecklich für ihn, und es wurde immer
schlimmer; wenn meine Mutter sich gerade in Richard Abbott verliebte, war sie
nicht die Einzige.
Ich erinnere mich an diesen bezaubernden Abend – selbst etwas so
Gewöhnliches, wie mit dem hinreißenden Richard Abbott den Bürgersteig der River
Street entlangzugehen, hatte für mich etwas Romantisches. Es war schwül wie an
einem Sommerabend, in der Ferne braute sich ein Gewitter zusammen. Sämtliche
Kinder und Hunde aus der River Street und Umgebung spielten in den Gärten
hinter den Häusern, und vom Turm der Favorite River Academy schlug die Uhr siebenmal.
»Wofür genau interessierst du dich, Bill?«, wollte Richard Abbott
von mir wissen.
»Ich frage mich, warum ich unter spontanen, unerklärlichen… Schwärmereien leide«, rang ich mir eine Antwort ab.
»Oh, Schwärmereien – das ist erst der
Anfang«, sagte [57]
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