In einer Person
aus. »Das ist also dieser Junge !«
In einer Kleinstadt wie First Sister, Vermont, kannte jeder die
Umstände, unter denen mich meine Mutter zur [60] Welt gebracht hatte – mit einem
dieser Männer, die nur dem Namen nach Ehemänner
waren. Ich hatte das Gefühl, dass jeder die Geschichte meines Dads, des Codeknackers,
kannte. William Francis Dean gehörte zu der Sorte Ehemann und Vater, die sich
aus dem Staub machte, und in First Sister, Vermont, war von dem Sergeant nur
noch sein Name vorhanden – mit einem junior dahinter.
Miss Frost mochte mir bis zu diesem September 1955 zwar offiziell noch nie
begegnet sein, aber sie wusste bestimmt alles über mich.
»Aber Sie sind doch wohl nicht Mr. Dean –
Sie sind nicht der Vater dieses Jungen, oder?«,
fragte Miss Frost Richard.
»Neinnein –«, stotterte Richard – mehr brachte er nicht heraus.
»Das dachte ich mir«, sagte Miss Frost. »Dann sind Sie…« Sie hielt
inne, aber es war klar, dass sie den unterbrochenen Satz nicht beenden wollte.
»Richard Abbott«, verkündete Richard.
»Der neue Lehrer !«, rief Miss Frost. »Der
in der sehnlichen Hoffnung verpflichtet wurde, dass irgendjemand an der Favorite River Academy fähig sein sollte, den Knaben Shakespeare
beizubringen.«
»Stimmt«, bestätigte Richard, überrascht, dass die städtische
Bibliothekarin die Details der Mission kannte, mit der die Privatschule ihn
betraut hatte – er sollte nicht nur Englisch unterrichten, sondern die Jungs
auch dazu bringen, Shakespeare zu lesen und zu verstehen. Ich war nur wenig
mehr überrascht als Richard: Ich hatte zwar gehört, wie er meinem Großvater von
seinem Interesse an Shakespeare erzählte, doch von seiner Mission in Sachen Shakespeare [61] hörte ich jetzt zum ersten Mal. Offenbar hatte man
Richard Abbott angestellt, damit er den Knaben Shakespeare um die Ohren schlug!
»Na dann viel Glück«, sagte Miss Frost zu ihm. »Das glaube ich erst,
wenn ich es sehe«, ergänzte sie und lächelte mich an. »Und werden Sie sie
Shakespeares Stücke aufführen lassen?«, fragte sie Richard.
»Ja, denn ich glaube, nur so bringt man die Jungs dazu, Shakespeare
zu lesen und zu verstehen«, antwortete ihr Richard. »Sie müssen die Stücke auf
der Bühne sehen – besser noch, sie müssen darin auftreten.«
»Dann müssen also all diese Jungs Mädchen und Frauen spielen«,
sinnierte Miss Frost kopfschüttelnd. »So viel zum Thema ›willentliche
Aussetzung der Ungläubigkeit‹ und was Coleridge sonst noch über Leser oder
Zuschauer gesagt hat, die sich willentlich auf eine Illusion einlassen, um
dafür gut unterhalten zu werden«, fuhr Miss Frost fort und lächelte mich weiter
an. (Normalerweise mag ich es nicht, wenn mir jemand die Haare zerzaust, aber
bei Miss Frost machte ich eine Ausnahme und lächelte zurück.) »Es war doch Coleridge, oder?«, fragte sie Richard.
»Ja.« Richard war von Miss Frost ziemlich angetan, das merkte ich,
und wenn er sich nicht erst kurz zuvor in meine Mutter verliebt hätte – wer
weiß? Miss Frost war, meiner unmaßgeblichen Meinung nach, eine Wucht. Nicht die
Hand, die mein Haar zerzaust hatte, sondern die andere ruhte jetzt auf dem
Tisch neben Richard Abbotts Hand. Doch als Miss Frost sah, wie ich ihre Hände
betrachtete, nahm sie ihre Hand vom Tisch und streifte mit den Fingern leicht
meine Schulter.
[62] »Und was für Lektüre könnte dich wohl interessieren, William?«,
fragte sie. »Du heißt doch William, oder?«
»Ja«, antwortete ich beglückt. »William« klang so erwachsen. Es war
mir peinlich, dass ich für den Freund meiner Mutter schwärmte. Mich noch viel
heftiger in die gutgebaute Miss Frost zu verknallen, kam mir dagegen weit
akzeptabler vor.
Mir war aufgefallen, dass sie breitere Handflächen und längere
Finger als Richard Abbott hatte, und ich sah – als die beiden
nebeneinanderstanden –, dass Miss Frosts Oberarme kräftiger waren als Richards
und ihre Schultern breiter. Größer als Richard war sie auch.
Eine Ähnlichkeit gab es dennoch. Richard sah dermaßen jugendlich
aus, dass er beinahe als Schüler der Favorite River Academy hätte durchgehen
können; wahrscheinlich musste er sich höchstens zweimal in der Woche rasieren.
Und Miss Frost hatte trotz der breiten Schultern, der kräftigen Oberarme und
des (wie ich erst jetzt bemerkte) auffallend weiten Brustumfangs wirklich
kleine Brüste. Es waren junge, knospende Brüste – wenigstens kam es mir so vor,
obwohl mir als Dreizehnjährigem
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