In einer Person
Brüste erst seit kurzem auffielen.
Selbst die meiner Cousine Gerry waren größer. Sogar die Brüste der
vierzehnjährigen Laura Gordon, die zu viel Busen hatte, um Hedvig in Die Wildente zu spielen, waren »deutlich sichtbar« (wie
meine brustbewusste Tante Muriel bemerkt hatte) und größer als die der ansonsten
stattlichen Miss Frost.
Ich war zu verknallt, um auch nur ein Wort herauszubringen, doch
Miss Frost wiederholte geduldig ihre [63] Frage: »William? Ich nehme an, du
interessierst dich für Bücher, aber vielleicht könntest du mir verraten, ob du
lieber Literatur oder Sachbücher magst – und welches Thema dich besonders
interessiert«, fragte Miss Frost. »Ich habe diesen Jungen in Ihrem kleinen Theater gesehen!«, sagte sie plötzlich zu Richard. »Ich
habe dich hinter der Bühne entdeckt, William – du scheinst ein guter Beobachter
zu sein.«
»Ja-a, d-das bin ich«, brachte ich mühsam über die Lippen. Ja, ich
hatte Miss Frost so aufmerksam beobachtet, dass ich auf der Stelle hätte
masturbieren können, doch stattdessen nahm ich allen Mut zusammen und fragte:
»Kennen Sie Romane über junge Leute mit… gefährlichen Schwärmereien?«
Miss Frost musterte mich, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Gefährliche Schwärmereien«, wiederholte sie. »Erklär mir, was an einer
Schwärmerei gefährlich sein soll.«
»Wenn man für den falschen Menschen schwärmt«, sagte ich ihr.
»Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass es so etwas nicht gibt«, warf
Richard Abbott ein. »Es gibt keine ›Falschen‹; es steht uns frei, für jeden zu
schwärmen, für den wir schwärmen wollen.«
»Man kann nicht für ›die Falschen‹ schwärmen – machen Sie Witze ?«, fragte Miss Frost Richard. »Im Gegenteil, William,
es gibt durchaus einschlägige Literatur zum Thema ›für die Falschen
schwärmen‹«, sagte sie zu mir.
»Genau das interessiert Bill«, teilte Richard Miss Frost mit. »Für
die Falschen schwärmen.«
»Das ist ein weites Feld«, sagte Miss Frost; die ganze Zeit [64] lächelte
sie mich strahlend an. »Ich werde dich langsam an das Thema heranführen,
William. Mit Schwärmereien für die Falschen sollte man nichts überstürzen.«
»Was schwebt Ihnen denn vor?«, fragte Richard Abbott sie. »Etwa Romeo und Julia ?«
»Die Probleme zwischen den Montagues und den Capulets sind nicht
Romeos und Julias Probleme«, sagte Miss Frost. »Romeo und Julia waren wie
füreinander geschaffen; ihre Familien waren im Arsch.«
»Verstehe«, sagte Richard – die Formulierung »im Arsch« war für uns
beide ein Schock (man erwartete sie irgendwie nicht von einer Bibliothekarin).
»Ich muss da an zwei Schwestern denken«, sagte Miss Frost rasch.
Sowohl Richard Abbott als auch ich verstanden sie falsch. Wir dachten beide,
jetzt käme irgendeine pfiffige Bemerkung über meine Mutter und Tante Muriel.
Als Kind hatte ich gedacht, der Ort First Sister sei nach Muriel
benannt worden; meine Tante strahlte genug Selbstgefälligkeit aus, dass man
eine ganze Stadt (wenn auch nur eine kleine) nach ihr hätte benennen können.
Doch dann hatte Grandpa Harry mich über die Herkunft des Ortsnamens aufgeklärt.
First River – der First River – war ein
Nebenfluss des Connecticut River. Als die ersten Waldarbeiter im Tal des
Connecticut River Bäume zu fällen begannen, benannten sie einige der Zuflüsse
um, auf denen sie Stämme in den Connecticut flößten – sowohl auf dem New
Hampshire als auch dem Vermont zugewandten Ufer des großen Flusses. (Vielleicht
hatten ihnen auch einfach die vielen indianischen Namen nicht gefallen.)
Jedenfalls dachten sich diese ersten [65] Flößer den Namen Favorite River für den
fast schnurgeraden Zufluss aus, der so wenig Windungen hatte, dass kaum
Holzstaus entstehen konnten. Unser Ort hatte den Namen First Sister erhalten,
weil er an dem Sägewerkteich lag, der durch den Damm am Favorite River
entstand. Mit unserem Sägewerk und dem Holzlager wurden wir die älteste oder
»erste Schwester« der anderen, größeren Holzstädte am Connecticut River.
Grandpa Harrys Erklärung für die Herkunft des Ortsnamens First
Sister fand ich weniger aufregend als meine frühere Annahme, unser Städtchen
sei nach der älteren, herrischen Schwester meiner Mutter benannt worden.
Jedenfalls mussten Richard Abbott und ich beide gleichzeitig an die
Marshall-Schwestern denken, als Miss Frost ihre Bemerkung »Ich muss da an zwei
Schwestern denken« machte. Bestimmt war Miss Frost aufgefallen, wie
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