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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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(als
Miranda) mit pulsierender Stimme, die wie ein Gong klang. Aber hinter den
Kulissen mokierte sich Kittredge über Elaines Stentorstimme, so dass sie ganz
gehemmt wurde. Schließlich war sie erst sechzehn; Kittredge dagegen war
achtzehn und ging mit Riesenschritten auf die dreißig zu.
    Es war eines Abends, als ich mit Elaine unterwegs von der Probe nach
Hause war (die Lehrerwohnung der Hadleys war im selben Wohnheim wie die, die
ich mit Richard Abbott und meiner Mutter teilte), als Kittredge wie so oft
plötzlich wie aus dem Nichts neben uns auftauchte. »Ihr beide seid mir schon
ein Pärchen«, sagte er zu uns.
    »Wir sind kein Pärchen!«, stieß Elaine
hervor, wie so oft viel lauter als beabsichtigt. Kittredge tat, als taumle er,
von einem unsichtbaren Schlag getroffen, und hielt sich die Ohren zu.
    »Ich warne dich, Nymphe – du läufst Gefahr, schwerhörig zu werden«,
sagte er zu mir. »Wenn diese junge Dame ihren ersten Orgasmus hat, dann steck
dir ja vorher [106]  Stöpsel in die Ohren. Und an eurer Stelle würd ich’s nicht im
Wohnheim machen. Das ganze Haus könnte sie hören.« Damit ließ er uns stehen und
bog in einen anderen, dunkleren Weg ab; Kittredge wohnte im Sportlerhaus, das
der Turnhalle am nächsten lag.
    Es war zu dunkel, um zu sehen, ob Elaine Hadley rot geworden war.
Ich berührte kurz ihr Gesicht, nur um festzustellen, ob sie weinte, was nicht
der Fall war, aber ihre Wange fühlte sich heiß an, und sie schob meine Hand
weg. »Niemand wird mich so bald zum Orgasmus bringen!«, rief sie Kittredge
hinterher.
    Wir standen in dem rechteckigen begrünten Innenhof zwischen den
Wohngebäuden; die Zimmerfenster waren hell erleuchtet, und ein Chor von Stimmen
juchzte und jubelte – als hätten hundert versteckte Knaben zugehört. Elaine war
außer sich gewesen, als sie Kittredge hinterhergerufen hatte; allerdings
bezweifelte ich, dass Kittredge (oder sonst wer außer mir) sie verstanden
hatte. Doch ich irrte mich, obwohl Elaines Ausruf mit polizeisirenenartiger
Lautstärke geklungen hatte wie »Nie Mandarinensuppe im alten Turm zu
Orgel-Mus!« (oder ähnlich unverständlicher Quatsch).
    Denn Kittredge hatte Elaines Worte durchaus verstanden; seine
einschmeichelnd sarkastische Stimme erreichte uns aus irgendeiner Ecke des
dunklen Hofes. Grausamerweise rief er meiner Freundin, die sich (in dieser
Situation) nicht eben wie Miranda fühlte, mit der Stimme des Schönlings
Ferdinand durch die Dunkelheit zu:
    »Oh, wenn ein Mädchen, / Und Eure Neigung frei noch, mach ich Euch /
Zur Königin von Napel«, schwört [107]  Ferdinand Miranda – und genauso verliebt
tönte Kittredge. In den vier Wohngebäuden war es gespenstisch still, als hätten
Kittredges Worte den Favorite-River-Schülern die Sprache verschlagen. »Gute
Nacht, Nymphe!«, hörte ich Kittredge rufen. »Gute Nacht, Napel!«
    Damit hatten Elaine Hadley und ich unsere Spitznamen weg. Wem
Kittredge einen Spitznamen verpasste, egal, wie beleidigend er war, an dem
blieb er haften wie ein Fluch.
    »Scheiße«, sagte Elaine. »Es könnte schlimmer sein – Kittredge
könnte mich Mädchen oder Jungfrau nennen.«
    »Elaine«, sagte ich in die Dunkelheit hinein. »Du bist meine einzige
wahre Freundin.«
    »Schnöder Sklav«, schallte es von ihr zurück.
    Es klang wie ein Bellen, und »schnöder Sklav« kläffte das hündische
Echo aus dem Geviert der Wohnheime zurück. Wir wussten beide, dass Prospero das
zu Caliban sagt – ein »wilder und missgestalter Sklave«, wie Shakespeare ihn
nennt; doch Caliban ist ein rohes Ungeheuer.
    Prospero wirft Caliban vor: »Du versuchst zu schänden / Die Ehre
meines Kindes.«
    Caliban streitet es nicht ab. Caliban hasst Prospero und dessen Tochter (»Der Sycorax, Molch, Schröter,
Fledermaus befall Euch!«), obwohl das Ungeheuer es einst auf Miranda abgesehen
hatte und sich wünscht, mit ihr »die Insel / Mit Calibans bevölkert« zu haben.
Caliban ist offensichtlich männlich, aber wie menschlich er ist, bleibt
dahingestellt.
    Als Trinculo, der Spaßmacher, Caliban das erste Mal erblickt, sagt
er: »Was gibt’s hier? Ein Mensch oder ein Fisch? Tot oder lebendig?«
    [108]  Ich wusste, dass Elaine Hadley Quatsch gemacht hatte – mit mir
als Prospero mit Caliban zu sprechen, war von ihr aus nur ein Spaß –, doch als
wir uns unserem ebenfalls hellerleuchteten Wohnheim näherten, kam ihr
tränenüberströmtes Gesicht zum Vorschein. Mit ein paar Worten hatte Kittredge
die Liebe zwischen Ferdinand und

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