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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Miranda verhöhnt und Elaine zum Weinen
gebracht. »Du bist mein einziger Freund!«, schniefte
sie mich an.
    Aus Mitleid legte ich ihr den Arm um die Schultern – und erntete
weitere Juchz- und Jubelrufe von denselben unsichtbaren Schülern wie vorher.
Ahnte ich, dass dieser Abend der Auftakt zu meiner Maskerade war? Wollte ich
bei meinen Mitschülern bewusst den Eindruck erwecken, Elaine Hadley wäre meine
Freundin? Spielte ich schon da nur eine Rolle? Ob bewusst oder unbewusst, ich
benutzte Elaine zur Tarnung. Eine Zeitlang sollte ich Richard Abbott und
Grandpa Harry hinters Licht führen – ganz zu schweigen von Mr. Hadley, seiner
unscheinbaren Frau Martha und (wenn auch kürzer und in geringerem Maße) meiner
Mutter.
    Ja, mit meiner Mutter ging eine deutliche Veränderung vor. In meiner
Kindheit war sie so liebevoll zu mir gewesen. Doch seit ich in die Pubertät
gekommen war, hatte ich mich schon manchmal gefragt, was wohl aus dem kleinen
Jungen geworden war, den sie damals so sehr geliebt hatte.
    Ich begann sogar einen frühen Roman mit folgendem verquasten,
ellenlangen Satz: »Wenn es nach meiner Mutter ginge, war ich schon
Schriftsteller, bevor ich irgendetwas zu Papier gebracht hatte, womit sie nicht
nur meinte, dass ich Sachen erfand oder mir ausdachte, sondern auch, dass ich [109]  diese
Art des Phantasierens oder bloßen Ausdenkens dem vorzog, was anderen Leuten für
gewöhnlich gefällt – womit sie natürlich die Realität meinte.«
    Was meine Mutter vom bloß Ausgedachten hielt, war wenig
schmeichelhaft. Dichtung erschien ihr frivol; nein, schlimmer als das.
    Einmal zu Weihnachten – es muss das erste Weihnachten seit Jahren
gewesen sein, an dem ich über die Feiertage nach Hause gekommen war – ertappte
mich meine Mutter dabei, wie ich die ganze Zeit in ein Notizheft kritzelte, und
fragte mich: »Was schreibst du jetzt schon wieder, Billy?«
    »Einen Roman«, antwortete ich ihr.
    Worauf sie sich an Grandpa Harry wandte, der allmählich schwerhörig
wurde (vermutlich ein Sägewerksschaden) und ausrief: »Na, wenn dich das nicht glücklich macht!«
    »Mich? Warum sollte es mich glücklich
machen, dass Bill noch einen Roman schreibt? Nicht dass mir der letzte nicht
prima gefallen hätte, Bill, und wie er mir gefallen
hat, worauf du einen lassen kannst!«, versicherte mir Grandpa Harry.
    »Natürlich hat er dir gefallen«, konterte meine Mutter. »Romane sind
doch nur eine andere Art, sich zu verkleiden, stimmt’s?«
    »Ach ja…«, setzte Grandpa Harry an, beließ es aber dabei. Je älter
Harry wurde, desto öfter verkniff er sich, was er eigentlich sagen wollte.
    Dieses Gefühl kenne ich. Als ich in meiner Jugend allmählich zu
spüren bekam, dass meine Mutter nicht mehr so liebevoll zu mir war wie früher, gewöhnte ich mir an, mir ebenfalls auf die Zunge zu
beißen. Doch das war einmal.
    [110]  Viele Jahre später, lange nach meinem Abschluss an der
Favorite River Academy und auf dem Höhepunkt meines Interesses an Transvestiten – das heißt daran, mich mit ihnen einzulassen, und nicht etwa, selber einer zu
sein –, erzählte ich Donna eines Abends beim Essen von Grandpa Harrys
Bühnenleben als Frauendarsteller.
    »Fand das alles nur auf der Bühne statt?«, fragte Donna.
    »Soweit ich weiß, ja«, antwortete ich ihr, aber sie ließ sich nichts
vormachen. Zu den Schattenseiten bei Donna gehörte, dass sie immer merkte, wenn
man mit der Wahrheit hinter dem Berg hielt.
    Nana Victoria war schon über ein Jahr tot, als ich das erste Mal von
Richard erfuhr, dass Grandpa Harry sich einfach nicht von ihren Kleidern
trennen wollte. (Im Sägewerk lief Grandpa Harry natürlich immer noch wie ein
Holzfäller herum, worauf man einen lassen konnte.)
    Irgendwann beichtete ich Donna, dass Grandpa Harry die Abende in der
Kleidung seiner verstorbenen Frau verbrachte – wenn auch nur ganz für sich in
seinem Haus an der River Street. Ich ließ den Teil mit Grandpa Harrys
Travestieabenteuern weg, nachdem er in die Einrichtung für betreutes Wohnen
gezogen war, die er und Nils Borkman Jahre zuvor großzügig den Alten von First
Sister gebaut hatten. Die anderen Bewohner hatten sich darüber beschwert, dass
Grandpa Harry sie immer mal wieder im Fummel überrascht hatte. (Wie Grandpa
Harry mir eines Tages sagen sollte: »Wie du bestimmt schon gemerkt hast,
verstehen diese erzspießigen Hinterwäldler einfach keinen Spaß, wenn es um
Transvestiten geht.«)
    Zum Glück war Grandpa Harrys Haus an der River [111] 

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