In einer Person
stimmt’s?«
»Wahrscheinlich«, sagte Richard noch argwöhnischer.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich als unsichtbare Wassernymphe
kostümiert und geschminkt sein würde; nie und nimmer hätte ich die algengrüne
Perücke, die man mir aufsetzte, noch gar die purpurrote Ringerhose vorhersehen
können. (Purpurrot und Silbergrau – »Todesgrau«, wie Grandpa Harry es nannte –
waren die Farben der Favorite River Academy.)
»Billys Geschlecht ist also… wandelbar «,
stellte Kittredge lächelnd fest.
»Nicht Billys – Ariels «, verbesserte ihn
Richard.
[103] Aber Kittredge hatte seinen Pfeil abgeschossen; dem gesamten Sturm -Ensemble sollte sich das Wort wandelbar unauslöschlich einprägen. »Nymphe«, der Spitzname, den Kittredge mir verpasste,
blieb haften. Ich hatte noch zwei Schuljahre an der Favorite River Academy vor
mir – und zwar unwandelbar als Nymphe.
»Ganz egal, was Kostüm und Maske mit dir anstellen, Nymphe«, sagte
Kittredge mir einmal unter vier Augen, »du wirst nie so scharf wie deine Mutter
sein.«
Mir war klar, dass meine Mutter hübsch war, und ich registrierte
mehr und mehr, wie meine Mitschüler an dem reinen Jungeninternat sie ansahen.
Aber noch kein anderer Junge hatte mir gesagt, dass meine Mutter »scharf« sei;
und wie so oft blieb ich Kittredge die Antwort schuldig. Mit Sicherheit war scharf damals noch kein gängiger Ausdruck – nicht in dem
Sinne, wie er das Wort verwendet hatte. Doch so und nicht anders hatte er
»scharf« gemeint.
Wenn Kittredge (selten genug) auf seine eigene Mutter zu sprechen
kam, dann ging es ihm meist um das Thema einer möglichen Verwechslung.
»Vielleicht ist meine richtige Mutter bei der Geburt gestorben«, sagte
Kittredge. »Mein Vater hat irgendeine ledige Mutter im selben Krankenhaus
aufgetan – eine arme Frau mit einem totgeborenen Kind (was sie nie erfahren
hat), eine, die wie meine Mutter aussah. Die Kinder
wurden vertauscht – meinem Vater würde ich so einen Schwindel zutrauen. Ich sag
ja nicht, die Frau weiß, dass sie nur meine Stief mutter
ist. Vielleicht glaubt sie sogar, mein Vater wäre mein Stiefvater! Damals hat
man sie bestimmt unter Drogen gesetzt – sie muss depressiv, vielleicht sogar
selbstmordgefährdet gewesen sein. [104] Ich bezweifle nicht, dass sie sich für
meine Mutter hält – sie verhält sich halt nur nicht
immer wie eine Mutter. Sie hat ein paar unpassende Dinge getan – Dinge, die
eine richtige Mutter nie machen würde. Ich sag ja nur, dass mein Vater sich
noch nie für sein Verhalten gegenüber Frauen verantworten musste – egal, welchen Frauen. Mein Vater handelt nur Deals aus. Diese
Frau sieht vielleicht so aus wie ich, aber sie ist nicht meine Mutter – sie ist
die Mutter von niemandem. «
»Kittredge leugnet die Tatsachen – und zwar so was von«, erklärte
mir Elaine. »Diese Frau sieht aus wie seine Mutter und sein Vater!«
Als ich Elaine Hadley erzählte, was Kittredge über meine Mutter
gesagt hatte, schlug sie mir vor, ihm unsere Meinung über seine Mutter zu sagen – nachdem wir sie ein ganzes Ringerturnier lang unverhohlen angestarrt hatten.
»Sag ihm, dass seine Mutter so aussieht wie er, mit Titten «,
sagte Elaine.
»Sag du’s ihm«, verlangte ich; wir wussten
beide, dass ich mich genauso wenig trauen würde wie Elaine.
Zu Beginn hatte Elaine fast ebenso viel Angst vor Kittredge wie ich – und das Wort Titten hätte sie in seiner Nähe schon
gar nicht über die Lippen gebracht. Sie war sich durchaus im Klaren, dass sie
die Flachbrüstigkeit ihrer Mutter geerbt hatte. Doch Elaine sah bei weitem
nicht so unscheinbar aus wie ihre Mutter; sie war dünn, schlaksig und busenlos,
hatte aber ein hübsches Gesicht – und war, im Unterschied zu ihrer Mutter,
nicht grobknochig. Sie wirkte sogar zierlich, weshalb man umso weniger auf ihre
Stentorstimme gefasst war. Dabei war sie anfangs in Kittredges [105] Gegenwart so
eingeschüchtert, dass sie häufig nur quäkte oder gar zusammenhangloses Zeug
brummelte. So sehr fürchtete sie, sich in seinen Ohren zu laut anzuhören. »Bei
Kittredge beschlagen meine Brillengläser«, wie sie es ausdrückte.
Ihre erste Begegnung auf der Bühne – als Ferdinand und Miranda –
sprach Bände; nie sah man zwei Seelen so eindeutig zueinander hingezogen. Als
Ferdinand Miranda zum ersten Mal sieht, spricht er von einem »Wunder«, und er
fragt: »Seid Ihr ein Mädchen oder nicht?«
»Kein Wunder, / Doch sicherlich ein Mädchen«, erwidert Elaine
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