In einer Person
erzählen können? Ab und zu dachte ich beim Onanieren noch an
die schlichte, flachbrüstige Martha Hadley – diese große, grobknochige Frau mit
breitem schmallippigen Mund, deren längliches Gesicht ich mir auf den Körpern
junger Mädchen in den Versandkatalogen meiner Mutter vorstellte, wo sie für
Teenager- BH s posierten.
[100] Für Elaine hätte es ein Trost sein können zu wissen, dass ich
ihren Liebeskummer um Kittredge teilte, der anfangs genau gleich gemein oder
gleichgültig (oder beides) zu uns beiden war, auch wenn er uns ein bisschen besser behandelte, seit Richard Abbott Der Sturm mit uns dreien besetzt hatte. Es war klug von
Richard, sich selbst den Prospero zuzuteilen, denn unter den
Favorite-River-Schülern gab es nicht einen Knaben, der den (Shakespeare
zufolge) »rechtmäßigen« Herzog von Mailand und Mirandas liebenden Vater hätte
spielen können. Sein zwölfjähriges Inselleben hat Prosperos Zauberkräfte
gestählt, und es gibt nicht viele Highschool-Schüler, die derlei Kräfte spielen
können.
Na gut – Kittredge hätte es vielleicht geschafft. Als hinreißend
attraktiver Ferdinand war er eine Traumbesetzung; seine Liebe zu Miranda nahm
ihm jeder ab, selbst wenn Elaine Hadley, die die Miranda gab, schwer darunter
zu leiden hatte.
»Dem Kleinod meiner Mitgift! Wünsch ich keinen / Mir zum Gefährten
in der Welt als Euch«, erklärt sich Miranda Ferdinand.
Und Ferdinand sagt zu Miranda: »Weit über alles, was die Welt sonst
hat, / Lieb ich und acht und ehr ich Euch.«
Wie schwer es für Elaine gewesen sein muss, sich das – in einer
Probe nach der anderen – anzuhören, nur um von Kittredge jedes Mal aufs Neue
ignoriert (oder verspottet) zu werden, wenn sie ihm außerhalb der Proben
begegnete! Dass er uns seit Probenbeginn für Der Sturm »ein bisschen besser« behandelte, hieß nicht, dass er nicht weiterhin fies sein
konnte.
Mit mir hatte Richard den Ariel besetzt; in seiner Liste [101] der
auftretenden Personen nennt Shakespeare ihn einen »Luftgeist«.
Richard war eindeutig alles andere als vorausschauend, was meine
aufkeimende und verwirrende sexuelle Orientierung betraf. Er erklärte der
Truppe, Ariels Geschlecht sei »polymorph – eher eine Frage der Kleiderwahl als
irgend etwas Organisches«.
In seinem allerersten Auftritt (1. Aufzug, 2. Szene) sagt Ariel zu
Prospero: »…schalte nur / Durch dein gewaltig Wort mit Ariel / Und allen seinen
Kräften.« Richard hatte das Ensemble, und insbesondere mich, auf das männliche
Pronomen aufmerksam gemacht. (Später heißt es in der Regieanweisung für Ariel: »schlägt mit seinen Flügeln auf die Tafel«. )
Zu meinem Leidwesen befiehlt Prospero Ariel: »Geh, werde gleich ’ner
Nymphe! Dich erkenne / Nur mein und dein Gesicht; sei unsichtbar / Für jedes
Auge sonst.«
Dem Publikum unsichtbar machen konnte ich mich ja nun leider nicht.
Das Ariel kommt zurück in Gestalt einer Wassernymphe erntete unweigerlich schallendes Gelächter, auch schon bevor ich kostümiert und
geschminkt war. Diese Regieanweisung brachte Kittredge darauf, mich »Nymphe« zu
nennen.
Ich weiß noch genau, wie Richard sich ausdrückte: »Die Ariel-Figur
beim männlichen Geschlecht zu belassen, ist einfacher, als noch einen
Chorjungen als Frau zu verkleiden.« (Aber ein Stück weit wurde ich ja ohnehin
mit der Perücke verkleidet!)
Dankbar nahm Kittredge auch Richards Bemerkung auf: »Vielleicht hat
Shakespeare eine Verbindungslinie von [102] Caliban über Prospero bis zu Ariel
gesehen – eine Art spirituelle Evolution. Caliban ist ganz Erde und Wasser,
brutale Gewalt und Tücke. Prospero verkörpert Selbstherrschung und Vernunft –
er ist der ultimative Alchemist. Und Ariel«, sagte Richard mit einem Lächeln in
meine Richtung (das Kittredge genauso wenig entging), »Ariel ist ein Geist aus
Luft und Feuer, frei von den Sorgen und Nöten der Sterblichen. Vielleicht hat
Shakespeare befürchtet, seine Idee der Entwicklungslinie wäre weniger gut
nachvollziehbar, wenn er aus Ariel eine eindeutig weibliche Figur machte. Ich
glaube, dass das Geschlecht von Ariel wandelbar ist.«
»Mit anderen Worten: Der Regisseur entscheidet?«, fragte Kittredge.
Und unser Regisseur und Lehrer antwortete mit einem argwöhnischen
Blick auf Kittredge: »Das Geschlecht von Engeln ist ebenfalls wandelbar. Ja,
Kittredge – der Regisseur hat entschieden.«
»Aber wie soll die sogenannte Wassernymphe aussehen ?«,
fragte Kittredge. »Wie ein Mädchen,
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