In einer Person
körperlich,
wohlgemerkt –, doch war er aggressiv und einschüchternd und verfügte über
messerscharfen Sarkasmus. In der reinen Jungenwelt des Internats wurde
Kittredge als Sportler verehrt, aber am deutlichsten sind mir seine
zielsicheren Pöbeleien in Erinnerung. Kittredge war brillant im Austeilen von
Verbalattacken und hatte den entsprechenden Körperbau, um seinen Worten
Nachdruck zu verleihen; keiner kam gegen ihn an. Wer ihn verachtete, behielt
das besser für sich. Ich verachtete und bewunderte ihn gleichermaßen. Leider
trug der verachtende Teil wenig dazu bei, meine Schwärmerei für ihn zu dämpfen;
meine Schwärmerei war eine Last, mit der ich mich mein gesamtes drittes
Schuljahr über abplagte, als Kittredge ein Schuljahr über mir war und ich
glaubte, mir stünde nur noch ein Jahr der Qualen
bevor. Ich sah einen gar nicht mehr fernen Tag voraus, an dem sich mein
Verlangen nach ihm verflüchtigen würde.
Ein schwerer Schlag und eine zusätzliche Belastung sollte für mich
die Nachricht sein, dass Kittredge in Fremdsprachen durchgefallen war; er
musste ein fünftes Jahr an der Schule bleiben. Das letzte Jahr würden wir also
gemeinsam absolvieren. Da sah Kittredge nicht mehr nur älter aus als alle seine
Mitschüler, er war es auch.
Ganz zu Beginn unserer, wie es schien, endlosen gemeinsamen
Kasernierung dachte ich, Kittredge hieße mit Vornamen »Jock«, so hatte es sich
jedenfalls für mich angehört. Jock musste sein Spitzname sein, dachte ich –
jeder, der so cool war wie Kittredge, hatte einen. Dabei war sein wahrer Vorname Jacques.
[98] »Schack«, sagten wir zu ihm. Verknallt, wie ich war, bildete ich
mir ein, meine Mitschüler wären es ebenso – und wir hätten seinen Vornamen
instinktiv französisiert, weil Kittredge so gut
aussah!
Geboren und aufgewachsen war er in New York, wo sein Vater etwas mit
dem internationalen Bankengeschäft zu tun hatte – vielleicht war es auch
internationales Recht. Kittredges Mutter war Französin. Sie hieß Jacqueline –
die weibliche Form von Jacques. »Meine Mutter, die ich nicht für meine richtige Mutter halte, ist sehr eitel«, sagte Kittredge
immer wieder – als ob er selbst es nicht wäre. Ich fragte mich, ob es ein Indiz
für Jacqueline Kittredges Eitelkeit war, dass sie ihren Sohn – ein Einzelkind –
nach sich selbst genannt hatte.
Ich habe sie nur einmal gesehen – bei einem Ringerturnier. Und ihre
Kleidung bewundert. Gut aussehend war sie allemal, aber ich fand, dass ihr Sohn
noch besser aussah. Mrs. Kittredge war auf maskuline Art attraktiv; ihre Züge
waren wie gemeißelt, und sie hatte sogar das markante Kinn ihres Sohnes. Wie
konnte Kittredge auch nur auf den Gedanken kommen, sie wäre nicht seine Mutter?
Sie sahen sich dermaßen ähnlich.
»Sie sieht aus wie Kittredge mit Brüsten«, verkündete Elaine Hadley
mit Stentorstimme. »Wie sollte sie nicht seine Mutter sein?«, fragte sie mich.
»Außer sie ist seine deutlich ältere Schwester. Also wirklich, Billy – wenn sie
gleich alt wären, könnte sie seine Zwillingsschwester sein!«
Beim Ringerwettkampf hatten Elaine und ich beide Kittredges Mutter
angestarrt, was sie nicht zu kümmern schien. Mit ihren hohen Wangenknochen, dem
hohen Busen und [99] der vorteilhaft geschnittenen, sehr eleganten Kleidung war
Mrs. Kittredge garantiert fremde Blicke gewohnt.
»Möchte wissen, ob sie sich die Gesichtshaare mit Wachs entfernt«,
sagte ich zu Elaine.
»Warum sollte sie?«, fragte Elaine zurück.
»Ich kann sie mir gut mit Damenbart vorstellen«, sagte ich.
»Stimmt, aber ohne Brustbehaarung, genau wie er«, gab Elaine zurück.
Vermutlich übte Kittredges Mutter deshalb eine so starke Faszination auf uns
aus, weil wir Kittredge in ihr sahen, doch mit ihrer eigenen verwirrenden Art
faszinierte sie uns auch so. Sie war die erste ältere Frau, die mir das Gefühl
gab, zu jung und unerfahren zu sein, um sie verstehen zu können. Ich weiß noch,
dass ich dachte, wie einschüchternd sie als Mutter sein musste – selbst für
jemanden wie Kittredge.
Ich wusste, dass Elaine für Kittredge schwärmte, weil sie es mir
erzählt hatte. (Wie peinlich, dass wir uns beide seine Brust eingeprägt
hatten.) In jenem Herbst 1959, mit siebzehn, gab ich Elaine gegenüber meine Schwärmereien noch nicht preis; noch traute ich mich
nicht, ihr zu sagen, dass ich sowohl auf Miss Frost als auch auf Jacques
Kittredge stand. Und wie hätte ich Elaine von meinem unbegreiflichen Begehren
für ihre Mutter
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