In einer Person
hervorkommen und sich mir und den anderen Studenten
anschließen, die brav hinten im Zuschauerraum standen, aber es waren – gegen
Ende des vierten Aktes – so viele Sitze leer, dass die meisten meiner
Kommilitonen Sitzplätze gefunden hatten.
Ich wusste nicht, dass hinter den Kulissen ein Fernseher ohne Ton
lief, vor dem Esmeralda wie angewurzelt stand; später erzählte sie mir, man
habe keinen Ton gebraucht, um zu verstehen, was mit Kennedy passiert sei.
Ich wartete das Ende des vierten und letzten Aktes nicht ab. Ich
brauchte nicht zu sehen, wie »Birnams Wald auch kam nach Dunsinane«, wie es bei
Shakespeare heißt, oder zu hören, wie Macduff Macbeth von seiner
Kaiserschnittgeburt erzählt. Ich lief durch die überfüllte Kärntnerstraße zur
Weihburggasse, vorbei an Leuten, denen die Tränen über die Wangen liefen – in
der Mehrzahl keine Amerikaner.
In der Küche des Restaurants Zufall sah die gesamte Belegschaft
fern; wir hatten ein kleines Schwarzweißgerät. Ich [229] sah ohne Ton dieselben
Berichte über die Schüsse in Dallas, die Esmeralda gesehen haben musste.
»Du kommst zu früh statt zu spät«, konstatierte Karl. »Hat deine
Freundin es verpatzt?«
»Sie hat nicht gesungen, sondern Gerda Mühle«, sagte ich ihm.
»Blöde Kuh!«, schimpfte Karl. (Die Wiener
Operngänger, die Gerda Mühle satthatten, nannten sie, schon lange bevor
Esmeralda sie den Polypen getauft hatte, blöde Kuh.)
»Esmeralda muss zu mitgenommen gewesen sein, um aufzutreten –
bestimmt hatte sie einen Nervenzusammenbruch hinter den Kulissen«, sagte ich zu
Karl. »Sie war Kennedy-Fan.«
»Also hat sie es verpatzt«, sagte Karl.
»Ich beneide dich nicht darum, mit den Folgen leben zu müssen, Billy.«
Ein paar englischsprachige Gäste waren schon aufgetaucht, warnte
mich Karl – offensichtlich keine Opernbesucher.
»Noch mehr Geburtshelfer und Gynäkologen«, stellte Karl verächtlich
fest. (Seiner Meinung nach gab es zu viele Babys auf der Welt. »Überbevölkerung
ist das Hauptproblem« war seine ständige Rede.) »Und es gibt einen Tisch mit
Schwulen«, wies Karl mich ein. »Sie sind eben erst gekommen, aber schon
betrunken. Ganz klar Früchtchen, fruits – sagt ihr
nicht so auf Englisch?«
»Unter anderem, ja«, antwortete ich unserem einäugigen Oberkellner.
Der Gynäkologentisch war leicht auszumachen; es waren zwölf – acht
Männer, vier Frauen, alles Ärzte. Da [230] Präsident Kennedy soeben ermordet
worden war, hielt ich es für keine gute Idee, das Eis zu brechen, indem ich
ihnen erzählte, dass sie alle die Kaiserschnittszene in Macbeth verpasst hatten.
An dem Tisch mit Schwulen – oder »Früchtchen«, wie Karl sie genannt
hatte – saßen vier Männer, alle betrunken. Einer von ihnen war der berühmte
amerikanische Dichter, der am Institut lehrte, Lawrence Upton.
»Ich wusste nicht, dass Sie hier arbeiten, junger
Prosaschriftsteller«, sagte Larry. »Bill, nicht wahr?«
»Stimmt«, bestätigte ich.
»Mein Gott, Bill – Sie sehen schlimm aus.
Ist es wegen Kennedy, oder ist sonst noch was passiert?«, fragte Larry mich.
»Ich war heute Abend in Macbeth… «, begann
ich.
»Ach, ich hab gehört, heute sollte die Sopran-Zweitbesetzung
drankommen – das hab ich mir geschenkt«, unterbrach mich Larry.
»Ja, stimmt – die Zweitbesetzung sollte drankommen«, sagte ich. »Aber sie ist Amerikanerin – sie muss zu
niedergeschmettert gewesen sein wegen Kennedy. Sie ist nicht aufgetreten,
sondern Gerda Mühle – wie immer.«
»Gerda ist toll«, sagte Larry. »War bestimmt großartig.«
»Nicht für mich«, verriet ich ihm. »Die Sopran-Zweitbesetzung ist
meine Freundin – ich hatte gehofft, sie als Lady Macbeth zu sehen. Ich hab sie
im Schlaf singen gehört«, erzählte ich dem Tisch betrunkener Homos. »Sie heißt
Esmeralda Soler«, sagte ich. »Eines Tages wird der Name Ihnen allen vielleicht
geläufig sein.«
[231] »Sie haben eine Freundin«, sagte Larry – mit derselben
hinterhältigen Ungläubigkeit wie später, als ich ihm klarmachte, dass ich ein
aktiver Partner war.
»Esmeralda Soler«, wiederholte ich. »Sie muss zu fertig gewesen
sein, um zu singen.«
»Die Ärmste«, sagte Larry. »Wahrscheinlich gibt es derlei Chancen
für Zweitbesetzungen nicht gerade in Hülle und Fülle. «
»Wohl nicht«, sagte ich.
»Ihre Idee mit dem Schreibseminar lass ich mir noch durch den Kopf
gehen«, sagte mir Larry. »Das hab ich noch nicht ad acta gelegt, Bill.«
Karl hatte gesagt, er
Weitere Kostenlose Bücher