In einer Person
erforderliche Agilität, um die flinken Läufe und komplizierten Vibrati
im italienischen Stil des frühen neunzehnten Jahrhunderts zu meistern. Aber
Esmeralda hatte mir erzählt, dass Gerda [223] Mühle einem mit ihrem Polypen
furchtbar auf den Wecker fallen konnte.
»Er vereinnahmt ihr Leben – unser aller Leben«, sagte Esmeralda. Von der Verehrung der Sopranistin Gerda Mühle war sie
zur Verachtung der Person Gerda Mühle übergangen – »der Polyp«, wie Esmeralda
sie jetzt nannte.
Am Freitagabend gönnte der Polyp seinen Stimmbändern Ruhe. Esmeralda
war völlig aus dem Häuschen, weil sie so zu ihrem, wie sie es nannte, Debüt an
der Staatsoper kam. Aber von Gerda Mühles Polypen mochte sie nichts mehr hören.
In Cleveland hatte Esmeralda eine Nebenhöhlenoperation über sich ergehen lassen – sehr riskant für eine angehende Sängerin. Als Jugendliche hatte Esmeralda
unter chronisch verstopften Nebenhöhlen gelitten; manchmal fragte sie sich, ob
diese Operation an ihrem hartnäckigen amerikanischen Akzent im Deutschen schuld
war. Esmeralda brachte überhaupt kein Verständnis für Gerda Mühles Getue um
ihren Stimmlippenpolypen auf.
Ich hatte mir angewöhnt, die Witze der Restaurant-Belegschaft, wie
es wohl sei, eine Sopranistin als Freundin zu haben, zu überhören. Jeder außer
Karl zog mich damit auf.
»Muss manchmal ganz schön laut sein«, hatte
der Koch im Zufall zu allgemeinem Gelächter in der Küche verkündet.
Natürlich verriet ich ihnen nicht, dass Esmeralda nur Orgasmen
hatte, wenn ich sie oral befriedigte. Nach ihrer eigenen Darstellung hatte sie
»ziemlich überwältigende« Orgasmen, aber vor dem Lärm war ich geschützt.
Esmeralda klemmte mir die Ohren mit ihren Oberschenkeln zu; ich hörte rein gar
nichts.
[224] »Gott, ich glaube, ich hab da eben das hohe Es getroffen – und
richtig gehalten !«, sagte Esmeralda nach einem ihrer
längeren Orgasmen. Ich weiß nicht mehr, wie das Wetter in Wien an jenem Freitag
im November war. Nur noch, dass Esmeralda ihren
John-F.-Kennedy-Wahlkampf-Button angesteckt hatte, als sie aus dem Haus ging.
Sie hatte mir gesagt, der Button sei ihr Glücksbringer. Sie war stolz auf ihre
ehrenamtliche Mithilfe bei Kennedys Wahlkampf 1960 in Ohio; als Ohio mit
knapper Mehrheit an den Republikaner Nixon fiel, hatte sie das furchtbar
geärgert.
Ich war nicht so politisch wie Esmeralda. 1963 glaubte ich, wenn ich
mich auf meinen schriftstellerischen Werdegang konzentrierte, bliebe keine Zeit
für politisches Engagement; Esmeralda gegenüber sagte ich selbstgefällig, ich
wolle alles auf eine Karte setzen, um Schriftsteller zu werden – und
politisches Engagement sei bei einem jungen Menschen eine Hintertür, für den
Fall, dass er mit seiner künstlerischen Karriere nicht weiterkam, oder
ähnlichen Blödsinn.
»Willst du damit etwa sagen, Billy, weil ich politischer bin als du, hätte ich weniger Ambitionen als Sängerin als du
als Schriftsteller?«, hatte Esmeralda nachgefragt.
»Selbstverständlich nicht !«, hatte ich
geantwortet.
Da hätte ich ihr sagen sollen, dass ich bisexuell war, wagte es aber
nicht. Nicht meine Schriftstellerei hielt mich von
der Beschäftigung mit Politik ab, sondern der Umstand, dass ich 1963 mit meiner
binären Sexualität politisch bereits mehr als genug zu schultern hatte. Glauben
Sie mir: Mit einundzwanzig kommt eine Menge Politik ins Spiel, wenn man sexuell wandelbar ist.
[225] So viel dazu – jedenfalls sollte ich an jenem Freitag im November
bald bereuen, Esmeralda je auf den Gedanken gebracht zu haben, sie würde nicht
alles auf eine Karte setzen, um Sopranistin zu werden – oder sich eine
Hintertür offenhalten, weil sie politisch so
engagiert war.
Beim ersten Abendessen im Restaurant Zufall waren mehr
Amerikaner unter den Gästen, als Karl und selbst ich erwartet hatten. Sonst
waren keine ausländischen Touristen da, nur ein paar amerikanische Paare im
Seniorenalter und ein Tisch mit zehn Geburtshelfern und Gynäkologen (alles Amerikaner),
die mir sagten, sie nähmen in Wien an einer Gynäkologenkonferenz teil.
Die Ärzte gaben mir ein großzügiges Trinkgeld, weil ich ihnen sagte,
sie hätten genau die richtige Oper für ihr Berufsfeld ausgesucht. Ich erzählte
ihnen von der Szene in Macbeth, in der die Hexen ein
blutiges Kind herbeizaubern – das Macbeth die berüchtigte Weissagung kundtut,
»niemand, den ein Weib geboren hat«, werde ihn überwinden. (Natürlich fällt
Macbeth darauf rein. Macduff
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