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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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tötet ihn und verkündet, er, Macduff, sei aus dem
Mutterleib geschnitten worden.)
    »Offenbar die einzige Oper mit einem Kaiserschnittmotiv«, erklärte
ich den zehn Gynäkologen am Tisch.
    Weil Karl jedem erzählte, meine Freundin sei die Sopranistin, die an
dem Abend die Partitur der Lady Macbeth sang, war ich bei den frühen
Abendessensgästen ziemlich beliebt, und Karl hielt sein Versprechen, mich
rechtzeitig vor Beginn des ersten Aktes gehen zu lassen. Aber etwas stimmte
nicht.
    [226]  Ich hatte den merkwürdigen Eindruck, dass das Opernpublikum
einfach nicht zur Ruhe kam – besonders die ungehobelten Amerikaner. Ein Paar
wirkte, als stünde es kurz vor der Scheidung; sie schluchzte herzzerreißend,
ganz gleich, was der Mann zu ihr sagte. Vermutlich ahnen viele von Ihnen, um
welchen Freitagabend es sich handelte: Es war der 22. November 1963. Um 12.30
Uhr amerikanischer Zeit wurde Präsident Kennedy in Dallas erschossen. In Wien
war es sieben Stunden später als in Texas, und Macbeth fing – zu meiner Überraschung – nicht pünktlich an. Esmeralda hatte mir
erzählt, die Staatsoper begänne immer pünktlich – nur nicht an diesem Abend.
    Ich konnte es nicht wissen, aber hinter den Kulissen ging es genauso
drunter und drüber wie im Zuschauerraum. Das amerikanische Paar, das auf mich
wie kurz vor der Scheidung gewirkt hatte, war bereits gegangen; beide
untröstlich. Jetzt sah es so aus, als seien noch andere Amerikaner untröstlich.
Auf einmal fielen mir die leeren Sitze auf. Arme Esmeralda! Es war ihr Debüt,
aber nicht vor vollem Haus. (Um ein Uhr nachmittags starb Kennedy – in Wien war
es da bereits acht Uhr abends.)
    Als sich der Vorhang einfach nicht über der öden schottischen Heide
heben wollte, begann ich mir Sorgen um Esmeralda zu machen. Litt sie etwa unter
Lampenfieber? Versagte ihr die Stimme? Hatte Gerda Mühle ihren Entschluss
revidiert, sich einen Abend freizunehmen? (Im Programmheft verkündete ein
Beiblatt, am Freitag, dem 22. November 1963, singe Esmeralda Soler die Lady
Macbeth. Ich hatte schon beschlossen, das Blatt rahmen zu lassen, um es
Esmeralda zu Weihnachten zu schenken.) Noch mehr [227]  lästige Amerikaner redeten
jetzt laut im Publikum – ein paar von ihnen verließen sogar den Zuschauerraum,
zum Teil unter Tränen. Ich kam zu dem Schluss, dass Amerikaner kulturell
unterentwickelt waren, unhöfliche Schwachköpfe oder Banausen, alle miteinander!
    Schließlich hob sich der Vorhang, und da waren die Hexen. Als
Macbeth und Banquo auftraten – Letzterer, wie ich wusste, bald nur noch ein
Geist seiner selbst –, dachte ich, dass dieser Macbeth viel zu alt und fett
war, um Esmeraldas Ehemann zu sein (selbst in einer Oper).
    Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als in der nächsten Szene
im ersten Akt nicht meine Esmeralda »Vieni, t’affretta!« sang, ebenso wenig, wie Esmeralda die
Sendboten der Hölle zu Hilfe rief (»Or tutti sorgete«). Dort, auf der Bühne, erschien Gerda Mühle samt ihrem Polypen. Ich konnte mir
gut vorstellen, wie entsetzt die englischsprachigen Gäste unseres frühen
Abendessens im Zufall sein mussten – mitsamt der zehn Geburtshelfer und
Gynäkologen. Bestimmt dachten sie: Wie kann es sein, dass diese Matrone von
einer Sopranistin die Freundin unseres jungen
gutaussehenden Kellners ist?
    Als Lady Macbeth die schlafenden Wachen mit dem blutigen Dolch
beschmierte, stellte ich mir vor, Esmeralda wäre hinter den Kulissen ermordet
worden – oder ihr wäre etwas nicht weniger Qualvolles zugestoßen.
    Am Ende des zweiten Aktes schien das halbe Publikum in Tränen
aufgelöst. Was rührte sie so zu Tränen, die Nachricht von Banquos Ermordung
oder Banquos Geist an der Festtafel? Ungefähr zu der Zeit, als Macbeth zum
zweiten Mal Banquos Geist sieht, gegen Ende des zweiten Aktes, [228]  muss ich der
einzige Mensch in der Wiener Staatsoper gewesen sein, der nicht wusste, dass
Präsident Kennedy einem Attentat zum Opfer gefallen war. Erst in der Pause
erfuhr ich, was passiert war.
    Nach der Pause blieb ich, um mir die Hexen noch einmal anzusehen –
und das grausige blutige Kind, das Macbeth verkündet, »niemand, den ein Weib
geboren hat«, werde ihn überwinden. Ich blieb bis zur Mitte des vierten Aktes,
weil ich die Schlafwandel-Szene sehen wollte – Gerda Mühle und ihr Polyp, wie
sie (über das hartnäckig haftende Blut an ihren Händen) »Una
macchia« sangen. Vielleicht hatte ich mir vorgestellt, Esmeralda würde
hinter den Kulissen

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