In einer Person
Oberkellner im Restaurant Zufall war ein ernst
dreinblickender junger Mann, der älter wirkte, als er war. Weil er ein Auge
verloren hatte, trug er eine Augenklappe; obwohl er noch keine dreißig war,
verlieh ihm diese Klappe die stille Würde eines deutlich älteren Mannes. Er
hieß Karl und redete nie über die Umstände, unter denen er sein Auge verloren
hatte – die anderen Kellner hatten es mir verraten: Nach Ende des Zweiten
Weltkriegs, im Alter von zehn, hatte er mit ansehen müssen, wie mehrere
russische Soldaten seine Mutter vergewaltigten, und als er versuchte dazwischenzugehen,
hatte einer der Kerle ihm mit seinem Gewehrkolben das Auge ausgeschlagen.
Im Spätherbst, Ende November, erhielt Esmeralda ihre erste große
Chance, eine große Sopranrolle zu singen. Wie sie vorausgesehen hatte, war es
eine italienische Oper – Verdis Macbeth, und
Esmeralda war bisher nur die Zweitbesetzung der weiblichen Hauptrolle gewesen.
»Vieni, t’affretta!«, sang Esmeralda im
Schlaf als Lady Macbeth, während sie den Brief ihres Mannes liest, der ihr von
seiner ersten Begegnung mit den Hexen berichtet.
Ich bat Karl um Erlaubnis, beim ersten Service vorzeitig gehen und
zum Souper später kommen zu dürfen, da am Freitagabend meine Freundin die Lady
Macbeth singen würde.
»Du hast eine Freundin – die Zweitbesetzung ist wirklich deine
Freundin, ist das richtig?«, fragte mich Karl.
»Ja, richtig, Karl«, bestätigte ich ihm.
»Das freut mich, Bill – ich habe nämlich etwas anderes gehört«,
sagte Karl, sein eines Auge bohrend auf mich gerichtet.
[221] »Esmeralda ist meine Freundin, und an diesem Freitag singt sie
die Lady Macbeth«, wiederholte ich.
»Das ist eine einmalige Chance, Bill – lass sie die bloß nicht
verpatzen«, sagte Karl.
»Ich will nur den Anfang nicht versäumen – und ich möchte bis zum
Ende bleiben, Karl«, sagte ich.
»Selbstverständlich. Ich weiß, dass es ein Freitag ist, aber es wird
nicht so voll werden. Mit dem warmen Wetter ist es vorbei. Die Touristen
verschwinden wie das Laub von den Bäumen. Es könnte das letzte Wochenende sein,
an dem wir einen englischsprachigen Kellner brauchen, aber wir schaffen es auch
ohne dich, Bill«, erklärte mir Karl. Er schaffte es, mir trotz seiner Erlaubnis
ein schlechtes Gewissen zu machen. Karl erinnerte mich an Lady Macbeth, wie sie
die Sendboten der Hölle herbeiruft.
»Or tutti sorgete.« Auch das hatte ich die
schlafende Esmeralda singen hören; es war schaurig und half mir überhaupt nicht
mit meinem Deutsch.
»Fatal mia donna!«, sagt Lady Macbeth zu
ihrem Schlappschwanz von einem Gemahl, ergreift den Dolch, mit dem er Duncan
getötet hat, und beschmiert die schlafenden Wachen mit Blut. Ich konnte es
nicht erwarten zu sehen, wie Esmeralda Macbeth den Marsch blies. Und all das im
ersten Akt! Kein Wunder, dass ich nicht zu spät kommen wollte – ich wollte
nicht eine Minute von den Hexen verpassen.
»Ich bin sehr stolz auf dich, Bill. Ich meine, weil du eine Freundin
hast – nicht nur, dass du diese große Sopranistin zur Freundin hast, sondern
überhaupt eine Freundin. Das wird dem Gerede ein Ende machen«, sagte Karl.
[222] »Wer redet denn, Karl?«, fragte ich ihn.
»Ein paar andere Kellner, und ein Souschef – du weißt ja, wie die
Leute so sind, Bill.«
»Oh!«
In Wahrheit verhielt es sich so: Wenn irgendwer in der Küche des
Restaurants einen Beweis dafür brauchte, dass ich nicht schwul war, dann
wahrscheinlich Karl; wenn es Gerede gegeben hatte, dass ich schwul sein könnte, dann steckte garantiert Karl dahinter.
Ich hatte Esmeralda im Schlaf beobachtet. Auch wenn Lady Macbeth im
vierten Akt nachts als Schlafwandlerin auftrat – und über das Blut an ihren
Händen klagt –, so nachtwandelte Esmeralda selbst nie, sondern schlief tief und
fest neben mir Bett, während sie (Nacht für Nacht) »Una
macchia« sang.
Die erste Sopranistin hatte sich an diesem Freitagabend wegen eines
Stimmlippenpolypen im Kehlkopfbereich abgemeldet – bei Opernsängern keine
Seltenheit; trotzdem wurde von Gerda Mühles winzigem Polypen viel Aufhebens
gemacht (etwa: Sollte er operativ entfernt werden oder nicht?).
Esmeralda verehrte Gerda Mühle, deren Stimme klangvoll, aber nie
forciert und von einer beeindruckenden Bandbreite war. Gerda Mühle traf mühelos
das tiefe G bis hin zu schwindelerregenden Höhenflügen oberhalb des hohen C.
Ihre Sopranstimme war voluminös und mächtig genug für Wagner, doch besaß sie
auch die
Weitere Kostenlose Bücher