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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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beneide mich nicht darum, »mit den Folgen« von
Esmeraldas vereiteltem Auftritt als Lady Macbeth »leben zu müssen«, aber
während ich mir Lawrence Upton und seine schwulen Freunde so ansah, sah ich
plötzlich eine andere, nicht ganz so schöne Folge für mein Zusammenleben mit
Esmeralda voraus.
    Nach jener Freitagabendvorstellung von Verdis Macbeth kamen nicht viele englischsprachige Operngänger ins Zufall. Vermutlich hatte
die Ermordung Kennedys den meisten meiner Landsleute, die in jenem November in
Wien waren, den Appetit verschlagen. Der Gynäkologentisch war verdrießlich
gestimmt; sie brachen bald auf. Nur Larry und die Früchtchen blieben.
    Karl drängte mich, nach Hause zu gehen. »Geh und sieh nach deiner
Freundin – der geht’s bestimmt nicht besonders gut«, forderte mich der
einäugige Oberkellner auf. Aber ich wusste, dass Esmeralda entweder bei ihren
Opernfreunden oder in unser kleines Apartment an der [232]  Schwindgasse
zurückgegangen war. Esmeralda wusste, wo ich arbeitete; wenn sie mich treffen
wollte, würde sie mich finden.
    »Die Früchtchen wollen partout nicht gehen – die haben vor, hier ihr
Leben auszuhauchen«, schimpfte Karl. »Den Gutaussehenden scheinst du ja zu
kennen – den Quassler «, stellte er fest.
    Ich erklärte ihm, wer Lawrence Upton war und dass er am Institut
lehrte, aber nicht mein Dozent war.
    »Geh nach Hause zu deiner Freundin, Bill«, wiederholte Karl.
    Aber mir grauste davor, mir die ewigen Wiederholungen der Berichte
über Kennedys Ermordung auf dem Wohnzimmerfernseher von Esmeraldas Vermieterin
ansehen zu müssen; der Gedanke an das hässlichen Hündchen hielt mich im Zufall
fest, wo ich mit einem Auge nach dem kleinen Schwarzweißfernseher in der
Restaurantküche schielen konnte.
    »Es ist der Tod der amerikanischen Kultur«, sagte Larry den drei
anderen fruits. »Nicht dass es in den Vereinigten
Staaten eine Buchkultur gäbe, aber Kennedy hat uns doch gewisse Hoffnungen auf
eine literarische Kultur gemacht. Man nehme nur Frost – dieses Gedicht zur
Amtseinführung. Es war nicht schlecht; Kennedy hatte wenigstens Geschmack. Wer
weiß, wann wir noch mal einen Präsidenten bekommen, der zumindest Geschmack hat?«
    Ich weiß, ich weiß – man hätte Larry einen wesentlich attraktiveren
ersten Auftritt verschaffen können. Aber das Tolle an dem Mann war, dass er die
Wahrheit sagte, ohne in dem Moment Rücksicht auf fremde Befindlichkeiten zu
nehmen.
    [233]  Irgendwo in der Mitte von Larrys Rede kam Esmeralda ins
Restaurant. Da sie mir gesagt hatte, dass sie vor einem Auftritt nichts zu sich
nehmen konnte, wusste ich, dass sie noch nichts gegessen hatte, und sie hatte
schon etwas Weißwein getrunken – auf nüchternen Magen keine gute Idee. Erst
hatte Esmeralda sich an den Tresen gesetzt und geweint; Karl hatte sie rasch in
die Küche bugsiert, wo sie auf einem Hocker vor dem kleinen Fernseher saß. Karl
gab ihr ein Glas Weißwein, bevor er mir sagte, dass sie in der Küche war; ich hatte
Esmeralda nicht am Tresen gesehen, weil ich gerade eine Flasche Rotwein für
Larrys Tisch entkorkt hatte.
    »Es ist deine Freundin, Bill – du solltest sie nach Hause bringen«,
informierte mich Karl. Larrys Deutsch war nicht schlecht; er hatte Karl verstanden.
    »Ist es deine Sopran-Zweitbesetzung, Bill?«, fragte Larry mich. »Hol
sie zu uns an den Tisch – wir heitern sie auf!«, schlug er vor. (Da hatte ich
so meine Zweifel; mit ziemlicher Sicherheit hätte ein Gespräch über den Tod der
amerikanischen Kultur Esmeralda nicht aufgeheitert.)
    Aber so bekam Larry Esmeralda zu sehen, als wir später das
Restaurant verließen.
    »Überlass die Früchtchen nur mir«, sagte Karl. »Das Trinkgeld teilen
wir uns. Bring das Mädel nach Hause, Bill.«
    »Ich glaube, ich muss gleich kotzen, wenn ich weiter fernsehe«,
sagte mir Esmeralda in der Restaurantküche, wo sie bereits ein wenig wacklig
auf ihrem Hocker saß. Ich wusste, dass sie sich wohl ohnehin übergeben würde –
schon allein wegen des Weißweins. Bestimmt würden wir [234]  ein komisches Bild
abgeben, während wir Seite an Seite über die Ringstraße bis zur Schwindgasse
trotteten, aber ich hoffte, die frische Luft würde Esmeralda guttun.
    »Eine außergewöhnlich attraktive Lady
Macbeth«, hörte ich Larry sagen, während ich Esmeralda aus dem Restaurant
schob. »Ich denke immer noch über das Schreibseminar nach, junger
Prosaschriftsteller!«, rief Larry mir hinterher.
    »Ich glaube, ich muss mich irgendwann

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