In einer Person
wohnten wir zwar noch
zusammen, aber der Schaden – der definitive Vertrauensverlust – war irreparabel. Eines Nachts muss ich im Schlaf geredet haben. Am Morgen
fragte mich Esmeralda: »Dieser ziemlich gutaussehende ältere Herr im Zufall –
du weißt schon, an dem furchtbaren Abend. Was hat er mit dem Schreibseminar
gemeint? Warum hat er ›junger Prosaschriftsteller‹ zu dir gesagt, Billy? Kennt
er dich? Kennst du ihn?«
Ach ja – darauf gab es keine einfache Antwort. Einen Monat später,
im Januar 1964, überquerte ich eines Abends nach Arbeitsschluss die
Kärntnerstraße und ging die Dorotheergasse entlang zum Café Käfig. Ich wusste
ganz genau, was für Gäste abends dort verkehrten: nur schwule Männer.
»Na, wenn das nicht der Prosaschriftsteller ist«, könnte Larry
gesagt haben, oder vielleicht fragte er auch nur: »Du bist Bill, nicht wahr?«
(An jenem Abend muss er mir seine Entscheidung mitgeteilt haben, das Schreibseminar
zu geben, um das ich ihn gebeten hatte, es war also vor den ersten von ihm
geleiteten Veranstaltungen.)
In jener Nacht im Café Käfig – nicht allzu lange bevor er mir seinen
Antrag machte – könnte Larry gefragt haben: »Heute keine Sopran-Zweitbesetzung?
Wo ist diese wahnsinnig attraktive junge Frau? Keine durchschnittliche Lady
Macbeth, Bill – oder?«
»Nein, durchschnittlich ist sie nicht«, könnte ich [238] gemurmelt
haben. Wir unterhielten uns nur; in dieser Nacht passierte nichts.
In derselben Nacht lag ich jedenfalls mit Esmeralda im Bett, als sie
mir eine bedeutsame Frage stellte. »Deine deutsche Aussprache – die ist so
formvollendet österreichisch, unfassbar. Dein Deutsch ist nicht besonders toll,
aber du sprichst es so echt aus. Wo hast du dein Deutsch her, Billy – kaum zu glauben, dass ich dich das noch nie gefragt hab!«
Wir hatten gerade miteinander geschlafen. Nun ja, es war nicht
weltbewegend gewesen – das Vermieterinnenhündchen hatte nicht gekläfft, und mir
klangen nicht die Ohren –, aber wir hatten Vaginalverkehr gehabt, und wir
fanden es beide toll. »Bei uns beiden ist nichts mehr mit anal, Billy – da bin
ich drüber weg«, hatte Esmeralda gesagt.
Natürlich wusste ich, dass ich nicht über
Analsex hinweg war. So wie mir auch klar war, dass ich nicht nur Esmeraldas
Möse mochte; mit der Vorstellung, dass ich nie »über« Mösen hinwegkommen würde,
hatte ich mich bereits abgefunden. Auch wenn Esmeraldas Möse nicht die einzige
bleiben sollte. Was konnte Esmeralda dafür, dass sie keinen Penis hatte?
Ich gebe der »Wo hast du dein Deutsch her«-Frage die Schuld. Die
brachte mich ins Grübeln, wo unser Begehren herkommt – ein dunkler, verschlungener Pfad. Noch in derselben Nacht wurde mir klar,
dass es Zeit war für meinen Abschied von Esmeralda.
[239] 6
Elaines Fotos, die ich behielt
Es war in Deutsch III als
Elftklässler auf der Favorite River Academy. In diesem Winter nach Dr. Graus
Tod übernahm Fräulein Bauers Deutsch- III -Kurs
einige von Dr. Graus Schülern – darunter Kittredge. Die Gruppe war schlecht
vorbereitet; Herr Doktor Grau war ein irritierender Lehrer gewesen.
Voraussetzung für einen Abschluss auf der Favorite River Academy war,
mindestens drei Jahre eine Fremdsprache zu belegen; wenn Kittredge in der
zwölften Klasse Deutsch III besuchte, hieß das,
dass er in Deutsch schon einmal durchgefallen war oder dass er eine andere
Fremdsprache belegt und – aus welchem Grund auch immer – zu Deutsch gewechselt
hatte.
»Ist deine Mom nicht Französin?«, fragte ich ihn. (Ich nahm an, dass
er zu Hause Französisch sprechen würde.)
»Ich war’s leid, das zu tun, was meine angebliche Mutter von mir
wollte«, sagte Kittredge. »Ist dir das noch nie passiert, Nymphe?«
Aufgrund seiner einschüchternden Intelligenz überraschte es mich,
dass Kittredge in Deutsch so schwach war; seine Faulheit überraschte mich
weniger. Er gehörte zu den Menschen, denen alles zuflog, doch er tat wenig, um
zu zeigen, dass er seine Talente auch verdient hatte. Fremdsprachen erfordern
die Bereitschaft, auswendig zu lernen und [240] zu wiederholen; seine Theaterrollen
lernte Kittredge problemlos, was bewies, dass er in der Lage war, sich
zusammenzureißen – auf der Bühne war er ein sicherer Darsteller. Doch um eine
Fremdsprache (und insbesondere Deutsch) zu erlernen, fehlte ihm die nötige
Disziplin. Für die Artikel – »diese verflixte › Der, die,
das, den, dem ‹-Scheiße«, wie Kittredge wütend erklärte – war
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