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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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über Elaine gesagt. »Was
für ein Pech – ihr erstes Mal und überhaupt.« Ich war sprachlos, und das nicht
zum ersten Mal.
    Ich bekam nicht mit, ob Kittredges Hausaufgaben in Deutsch
schlechter oder besser wurden. Ich bekam nicht einmal mit, welchen
Gesichtsausdruck meine Mutter hatte, als sie ihren Vater als Frau auf der Bühne
sah. Ich war wegen Elaine so durch den Wind, dass ich meinen Plan vergaß, die
Souffleuse zu beobachten.
    Wenn ich sage, die Hadleys hätten Elaine »etappenweise«
fortgeschickt, so meine ich damit, dass die Europareise – von dem naheliegenden
Grund für diese Reise ganz zu schweigen – nur der Anfang war.
    Die Hadleys hatten beschlossen, ihre Wohnung in einem Jungeninternat
sei der falsche Ort für Elaine, um ihren [266]  Highschool-Abschluss zu machen. Die
beiden würden sie auf ein Mädcheninternat schicken, aber erst im Herbst. Diesen
Frühling 1960 konnte Elaine vergessen, und sie würde die zehnte Klasse
wiederholen müssen.
    Offiziell hieß es, Elaine habe einen »Nervenzusammenbruch« erlitten,
doch in einer so kleinen Stadt wie First Sister wusste jeder, was passiert war,
wenn eine Highschool-Schülerin die Schule verließ. Auch auf der Favorite River
Academy wusste jeder, was mit Elaine passiert war. Sogar Atkins verstand es.
Nicht lange nachdem Elaine mit Mrs. Kittredge nach Europa abgereist war, kam
ich eines Tages aus Mrs. Hadleys Büro im Musikgebäude. Die Leichtigkeit, mit
der ich das Wort Abtreibung aussprach, hatte Martha
Hadley entnervt; sie ließ mich zwanzig Minuten früher gehen als vorgesehen, und
ich begegnete Atkins auf der Treppe zwischen Erdgeschoss und dem ersten Stock.
Ich sah, was ihm durch den Kopf ging – es war noch nicht Zeit für seinen Termin
bei Mrs. Hadley, doch sein Problem mit dem Wort Zeit verhinderte offensichtlich, dass er es aussprach. Stattdessen sagte er: »Was
für ein Zusammenbruch war es? Weswegen sollte Elaine nervös sein?«
    »Ich glaube, das weißt du«, antwortete ich ihm. Atkins hatte ein
ängstliches, aber irgendwie wildes Gesicht, dazu strahlend blaue Augen und den
sanften Teint eines Mädchens. Er ging wie ich in die elfte Klasse, sah aber
jünger aus – er musste sich noch nicht rasieren.
    »Sie ist schwanger, stimmt’s? Es war Kittredge, stimmt’s? Das sagen
alle, und er leugnet es nicht«, sagte Atkins. »Elaine war wirklich nett –
jedenfalls hat sie zu mir immer irgendwas Nettes gesagt«, schloss er.
    [267]  »Elaine ist wirklich nett«, korrigierte ich ihn.
    »Aber was macht sie mit Kittredges Mutter? Hast du Kittredges Mom
gesehen? Sie wirkt nicht wie ’ne Mom. Sie gleicht so einem weiblichen Filmstar
von früher, der insgeheim eine Hexe oder ein Drachen ist!«, verkündete Atkins.
    »Ich weiß echt nicht, was du meinst«, sagte ich ihm.
    »Eine Frau, die so schön war, kann nie akzeptieren, dass –« Atkins
verstummte.
    »Dass die Zeit vergeht?«, riet ich.
    »Genau!«, rief er. »Frauen wie Mrs. Kittredge hassen Mädchen.
Kittredge hat mir das erzählt«, fügte Atkins hinzu. »Sein Dad hat seine Mom
wegen einer jüngeren Frau verlassen – sie war nicht schöner, nur jünger.«
    »Oh!«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, mit Kittredges Mutter zu
verreisen!«, rief Atkins. »Kriegt Elaine ein eigenes Zimmer?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, ob
Elaine sich mit Mrs. Kittredge ein Zimmer teilte; allein der Gedanke daran
jagte mir einen Schauer über den Rücken. Was, wenn sie gar nicht Kittredges
Mutter war, wenn sie gar keine Mutter war? Doch Mrs. Kittredge musste Kittredges
Mutter sein; es war undenkbar, dass die beiden nicht miteinander verwandt
waren.
    Atkins hatte sich an mir vorbeigeschoben, die Treppe rauf. Ich ging
eine oder zwei Stufen runter; ich dachte, unser Gespräch wäre beendet.
Plötzlich sagte Atkins: »Nicht jeder hier versteht Menschen wie uns, aber
Elaine schon – und auch Mrs. Hadley.«
    »Ja.« Mehr brachte ich nicht heraus, während ich [268]  weiter die
Treppe hinunterging. Ich bemühte mich, nicht zu gründlich darüber nachzudenken,
was er mit Menschen wie uns gemeint hatte, war mir
aber sicher, dass Atkins sich nicht ausschließlich auf unsere
Ausspracheprobleme bezogen hatte. War das ein Annäherungsversuch gewesen?,
fragte ich mich, als ich den Innenhof überquerte. War das etwa der erste
Annäherungsversuch gewesen, den ein Junge wie ich bei
mir unternommen hatte?
    Der Himmel hatte sich aufgehellt – nachmittags wurde es nicht mehr
so früh

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