In einer Person
dunkel –, doch ich wusste, dass in Europa die Nacht schon
hereingebrochen war. Elaine würde bald zu Bett gehen, ob in ein eigenes Bett
oder nicht. Es war jetzt auch wärmer – nicht dass es in Vermont je einen
nennenswerten Frühling gab –, doch mich fröstelte, als ich unterwegs zu meiner
Probe von Was ihr wollt durch den Innenhof ging. Ich
hätte an meinen Text denken müssen, an Sebastians Worte, doch mir fiel immer
nur das Lied ein, das der Narr vor dem letzten Vorhang singt – das Kittredge zu
singen hatte. (»Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag.«)
In diesem Moment fing es an zu regnen, und ich dachte daran, dass
sich Elaines Leben ein für alle Mal verändert hatte, während ich nur so tat,
als ob.
Ich habe die Fotos aufbewahrt, die Elaine mir damals geschickt
hat; es waren keine künstlerisch wertvollen Bilder, nur schwarzweiße oder bunte
Schnappschüsse. Weil diese Fotos auf so vielen meiner Schreibtische gestanden
haben – oft in der Sonne und jahrelang –, sind sie ganz verblasst, aber
natürlich kann ich mich problemlos erinnern, wann und wo sie entstanden sind.
[269] Ich wünschte nur, Elaine hätte mir einige Bilder von ihrer
Europareise mit Mrs. Kittredge geschickt, aber wer hätte diese Fotos aufnehmen
sollen? Ich kann mir nicht vorstellen, wie Elaine Schnappschüsse von Kittredges
Mutter, dem Exfotomodell, machte – wobei? Wie die sich gerade die Zähne putzte,
im Bett las, sich an- oder auszog? Und was hätte Elaine tun können, um die
Fotokünstlerin in Mrs. Kittredge zu wecken? Kniend in eine Toilettenschüssel
kotzen? Von Übelkeit gepackt in der Lobby irgendeines Hotels sitzen, weil ihr
Zimmer – oder das Zimmer, das sie mit Kittredges Mom teilen sollte – noch nicht
fertig war?
Ich bezweifle, dass es viele Gelegenheiten zum Fotografieren gab,
die Mrs. Kittredge als Fotokünstlerin reizten. Jedenfalls nicht der Besuch in
der Arztpraxis – oder war es eine Klinik? –, und schon gar nicht der ebenso
unschöne wie prosaische eigentliche Eingriff. (Elaine war erst im dritten
Monat. Bestimmt handelte es sich um einen standardmäßigen Abbruch mittels
Curettage – die übliche Ausschabung halt.)
Später erzählte mir Elaine, dass nach der Abtreibung, als sie noch
ihre Schmerzmittel nahm – und Mrs. Kittredge regelmäßig kontrollierte, wie viel
Blut auf ihrer Binde war, um sicherzugehen, dass die Blutung »normal« war –,
Kittredges Mom ihr die Stirn fühlte, um sich zu vergewissern, dass Elaine kein
Fieber hatte, und dabei erzählte Mrs. Kittredge Elaine diese unglaublichen
Geschichten.
Ich dachte früher, die Schmerzmittel könnten eine Rolle dabei
gespielt haben, woran Elaine sich noch erinnern konnte oder was sie an
Geschichten gehört zu haben [270] glaubte. »So stark waren die Schmerzmittel
nicht, und ich habe sie höchstens ein, zwei Tage lang genommen«, widersprach
Elaine immer. »Ich hatte keine großen Schmerzen, Billy.«
»Aber hast du nicht Wein getrunken? Mir hast du erzählt, Mrs.
Kittredge habe dir so viel Rotwein gegeben, wie du trinken wolltest«, erinnerte
ich Elaine. »Bestimmt solltest du Schmerzmittel nicht mit Alkohol mischen.«
»Ich habe nie mehr als ein Glas, höchstens zwei Gläser Rotwein
getrunken, Billy«, sagte Elaine dann immer. »Ich hab jedes Wort gehört, das
Jacqueline gesagt hat. Entweder sind diese Geschichten wahr, oder Jacqueline
hat mich angelogen – und warum sollte eine Mutter über so etwas lügen?«
Zugegeben, ich weiß wirklich nicht, weshalb sich »eine Mutter«
Geschichten über ihr einziges Kind ausdenken sollte – jedenfalls nicht über
dieses Kind –, andererseits habe ich in moralischen Fragen keine sehr hohe
Meinung von Kittredge oder seiner Mom. Egal, was ich von Mrs. Kittredges Geschichten glaubte, Elaine jedenfalls schien jedes Wort
davon zu glauben.
Laut Mrs. Kittredge war ihr einziges Kind ein kränklicher kleiner
Junge gewesen; er hatte kein Selbstvertrauen, und die anderen Kinder hackten
immer auf ihm herum, besonders die Jungs. Auch wenn man sich das nur schwer
vorstellen konnte – noch unglaublicher war, dass Kittredge sich von Mädchen
verunsichern ließ. Offenbar war er so schüchtern gewesen, dass er stotterte,
wenn er mit Mädchen zu reden versuchte, und die Mädchen verspotteten oder
ignorierten ihn.
[271] In der siebten Klasse täuschte Kittredge vor, krank zu sein,
damit er zu Hause bleiben und den Unterricht schwänzen konnte – das waren »sehr
leistungsorientierte Schulen« in
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