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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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wohnen. (Offenbar tat sie es
nicht – und würde es auch nie tun.)
    [274]  Moore Cottage hatte unten weißgestrichene Holzwände, die weiter
oben von weißgestrichenen Holzschindeln abgelöst wurden – als hätten sich die
Bauherren nicht für eine einheitliche Verkleidung entscheiden können.
Möglicherweise hing diese Unsicherheit mit der Nutzung von Moore Cottage zusammen.
Im Laufe der Jahre diente es als Schulwohnheim für Mädchen, später als
Gästehaus für Eltern, die zu Besuch kamen. Der Weitläufigkeit des Gebäudes nach
zu urteilen, gab es wahrscheinlich ein Dutzend Schlafzimmer oder mehr –
bestimmt viel weniger Badezimmer – und eine große Küche mit daran
anschließendem Gemeinschaftsraum.
    Mehr Bäder hätten die besuchenden Eltern vielleicht freundlicher
gestimmt, während die Schülerinnen (als sie noch dort wohnten) es längst
gewohnt waren, mit weniger über die Runden zu kommen. Die Veranda, auf der
Elaine auf diesem ersten Schnappschuss steht, wirkte irgendwie fehl am Platz –
und Elaine selbst wirkte auf eine für sie untypische Art unsicher. Welche
Verwendung hatten Internatssschülerinnen für eine Veranda? Auf einer guten
Schule wie Northfield sind die Schülerinnen zu beschäftigt, um sich groß auf
Veranden aufzuhalten, die besser zu Leuten mit mehr Freizeit passen – Gästen
beispielsweise.
    Auf dem Bild von Elaine auf der Veranda von Moore Cottage fühlte sie
sich vielleicht wie ein Gast. Seltsamerweise erahnt man hinter dem
Erdgeschossfenster, das auf die Veranda geht, eine Person, deren Kleidung und
der Länge ihrer Haare nach zu urteilen eine Frau unbestimmten Alters (das
Gesicht ist im Halbdunkel kaum zu sehen oder von einer Spiegelung im Fenster
verdeckt).
    [275]  Zu den ersten Fotos ihrer (übrigens sehr alten) neuen Schule
gehörte das Bild des Geburtshauses von Dwight L. Moody. Das
Geburtshaus unseres Gründers, in dem es angeblich spukt, hatte Elaine
auf die Rückseite des Fotos geschrieben, auch wenn das Gesicht in einem
Fensterchen im oberen Stock nicht der Geist von D.L.
persönlich sein kann. Es ist das Gesicht einer Frau im Profil – weder jung noch
alt, aber eindeutig hübsch –, ein Gesichtsausdruck ist nicht erkennbar. Elaine
lächelt im Vordergrund des Fotos; sie scheint nach oben auf das Fenster zu
zeigen. (Vielleicht war die Frau eine Freundin von ihr, wie ich zuerst annahm.)
    Dann gibt es da ein Foto mit der Beschriftung Das
Auditorium, 1894 – auf einem Hügelchen. Mit »Hügelchen« meinte Elaine
wohl Vermonter Verhältnisse. (Ich weiß noch, es ist das erste dieser Fotos, auf
dem die geheimnisvolle Frau absichtlich in Szene gesetzt worden war; nachdem
ich dieses Bild gesehen hatte, suchte ich nach ihr.) Das Auditorium war ein Backsteingebäude
mit Bogenfenstern und -türen sowie zwei Türmen wie bei einer Burg. Der Schatten
eines der Türme fällt über den Rasen und bis zu dem Stamm eines mächtigen
Baumes, unter dem Elaine steht. Hinter dem Baumstamm – im Sonnenschein, nicht im Schatten des Turms – ragt ein wohlgeformtes
Frauenbein hervor. Der Fuß, der Richtung Elaine zeigt, steckt in einem dunklen
Laufschuh; der Kniestrumpf ist ordentlich bis zum nackten Knie hochgezogen,
über dem ein langer grauer Rock beginnt, der bis Mitte des Oberschenkels
gerafft ist.
    »Wer ist das andere Mädchen oder die Frau?«, hatte ich Elaine
gefragt.
    [276]  »Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte sie. » Welches Mädchen oder welche Frau?«
    »Auf den Fotos. Da sieht man immer noch eine andere Person«, sagte
ich. »Komm schon, du kannst es mir ruhig verraten. Wer ist es – eine Freundin
von dir vielleicht oder eine Lehrerin?«
    Auf dem Foto von East Hall ist das Gesicht der Frau sehr klein – und
teilweise hinter einem Schal verborgen – im Fenster eines oberen Stockwerks zu
sehen. East Hall war offensichtlich ein Wohnheim, obwohl Elaine es nicht
erwähnte; die Feuertreppe verriet es.
    Auf dem Bild von Stone Hall sieht man einen kupfergrünen Uhrenturm
und sehr hohe Fenster; im Inneren muss ein warmes Licht gewesen sein, an einem
der wenigen nichtgrauen Tage im Westen von Massachusetts. Elaine steht ein
wenig abseits; sie blickt zwar zur Kamera, steht aber fast genau Rücken an
Rücken mit jemand anderem. Man erkennt zwei zusätzliche Finger an Elaines
linker Hand, eine dritte Hand hält ihre rechte Hüfte.
    Dann gibt es das Foto von der Schulkapelle, so könnte man sie wohl
nennen – eine klotzig wirkende Kirche mit einer dieser großen Holztüren

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