In einer Person
Paris und New York, wie Mrs. Kittredge Elaine
erklärt hatte –, und seit Beginn der achten Klasse redete er weder mit den Jungs
noch den Mädchen in seiner Klasse.
»Und deshalb verführte ich ihn – mir fiel nichts anderes ein«,
erzählte Mrs. Kittredge Elaine. »Der arme Junge, irgendwo musste er ein wenig Selbstvertrauen herbekommen!«
»Anscheinend gewann er eine ganze Menge Selbstvertrauen«, bemerkte Elaine zu Kittredges Mom, die daraufhin nur mit den
Achseln zuckte.
Mrs. Kittredge hatte ein nonchalantes Achselzucken; man fragte sich
nur, ob sie damit geboren wurde oder ob sie sich – nachdem ihr Mann sie wegen
einer jüngeren, aber unbestreitbar unattraktiveren Frau verlassen hatte – eine
instinktive Gleichgültigkeit gegenüber jeder Art von Ablehnung zugelegt hatte.
Mrs. Kittredge erzählte Elaine ganz sachlich, sie habe mit ihrem
Sohn, »sooft er es wollte«, geschlafen, doch nur bis Kittredge mangelnde
Leidenschaft oder sexuelle Unaufmerksamkeit an den Tag legte. »Er kann nichts
dafür, dass er alle vierundzwanzig Stunden das Interesse verliert«, sagte
Kittredges Mom zu Elaine. »Er hat diese Selbstsicherheit nicht dadurch
bekommen, dass er sich langweilte – glaub mir.«
Glaubte Mrs. Kittredge etwa, Elaine eine Art Entschuldigung für das
Benehmen ihres Sohnes zu liefern? Während sie sprach, kontrollierte Mrs.
Kittredge immer wieder, ob [272] das Blut auf Elaines Binde »normal« war, oder sie
fühlte Elaines Stirn, um sich zu vergewissern, dass sie auch ja kein Fieber
hatte.
Es gibt keine Fotos von ihrer gemeinsamen Europareise – nur die
Informationen, die ich Elaine (nach und nach im Laufe der Jahre) entlocken
konnte, und was ich mir zwangsläufig vorstellte, wie meine liebe Freundin
Kittredges Kind abtrieb und sich anschließend in der Gesellschaft von
Kittredges Mutter erholte. Falls Mrs. Kittredge ihren eigenen Sohn verführt
hatte, damit er ein wenig Selbstbewusstsein bekam, erklärte dies, warum
Kittredge sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, seine Mom sei weniger (oder
vielleicht mehr) als mütterlich ?
»Wie lange hatte Kittredge Sex mit seiner Mom?«, fragte ich Elaine.
»Im Jahr, als er die achte Klasse besuchte, also zwischen dreizehn
und vierzehn«, antwortete Elaine, »und vielleicht noch drei- oder viermal nach
seinem Wechsel auf die Favorite River Academy – er war um die fünfzehn, als es
aufhörte.«
»Warum hörte es auf?«, fragte ich Elaine – ohne mir ganz sicher zu
sein, dass es sich wirklich zugetragen hatte!
Ich erntete ein nonchalantes Achselzucken, das Elaine sich
vielleicht von Mrs. Kittredge abgeschaut hatte.
»So wie ich Kittredge kenne, hatte er an einem bestimmten Punkt
einfach genug«, hatte Elaine geantwortet. Wir waren in ihrem Zimmer in Bancroft
Hall, und sie packte gerade ihre Taschen für ihre elfte Klasse in Northfield –
das Herbsthalbjahr 1960. Es muss Ende August gewesen sein; in dem Zimmer war es
heiß. Die Lampe mit dem [273] dunkelblauen Schirm war durch ein farbloses Etwas
ersetzt worden, das einer Schreibtischlampe in irgendeinem anonymen Büro glich,
und Elaine hatte sich die Haare kurz schneiden lassen – fast knabenhaft kurz.
Obwohl sie sich jedes Mal, wenn sie abreiste, ein männlicheres
Aussehen zugelegt hatte, betonte Elaine, sie würde nie eine lesbische Beziehung
eingehen; und doch erzählte sie mir, sie habe damit experimentiert, lesbisch zu
sein. Hatte sie mit Mrs. Kittredge »experimentiert«? Falls Elaine sich je zu
Frauen hingezogen fühlte, konnte ich mir denken, dass Mrs. Kittredge dem ein
Ende gesetzt haben könnte, doch dazu wurde Elaine nie konkret. Ich stellte mir
vor, dass meine liebe Freundin dazu verdammt war, den falschen Männern zu
verfallen, doch auch dazu hielt sich Elaine bedeckt. »Es sind einfach keine
Männer für eine dauerhafte Beziehung«, formulierte sie es.
Was die Fotos betrifft: Ich habe die Bilder behalten, die Elaine
mir während ihrer drei Jahre in Northfield schickte. Viele waren schwarzweiß
und alle völlig amateurhafte Schnappschüsse, doch beileibe nicht so kunstlos,
wie sie auf den ersten Blick wirkten.
Ich beginne mit dem Foto von Elaine, wo sie auf der Veranda eines
zweistöckigen Holzhauses steht; sie wirkt irgendwie verloren – vielleicht war
sie nur zu Besuch da. Neben dem Namen des Hauses und seinem Baujahr – Moore Cottage, 1899 – gibt Elaine in ihrer sorgfältigen
Handschrift auf der Rückseite des Fotos der Hoffnung Ausdruck: Ich wünschte, ich würde hier
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