In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
»Vielleicht kann ich heute nachmittag ein wenig schlafen.«
Allie schloß erst die Beifahrertür auf; dann stieg auch sie ein und beobachtete, wie er sich in den engen Sitz zwängte, ihn zurückschob, um die Beine auszustrecken. Dann schaltete sie die Zündung ein; ein kräftiger Windstoß aus den Heizungsdüsen wehte ihr die Strähnen aus der Stirn. »Mein Gott«, sagte sie. »Kaum zu glauben, daß es gestern noch zehn Grad über Null hatte.«
Jamie reagierte mit einem kehligen Laut. »Heutzutage läßt sich nichts mehr vorhersagen.«
Allie warf ihm einen kurzen Blick zu, ehe sie vom Parkplatz des Gerichts nach rechts auf die Straße bog. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Haut darunter sah aufgedunsen und gerötet aus. Jamie spürte ihren Blick. »Ich weiß«, sagte er. »Ich sehe aus, als stände ich mit einem Bein im Grab.«
»Du schläfst schlecht?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Noch schlechter als damals, nachdem ich Maggie getötet hatte«, kommentierte er spröde. »Wenn ich wüßte, wie sich die Geschworenen entscheiden, könnte ich wahrscheinlich alles schlucken, was die Kuh Audra Campbell vor Gericht auftischt. Selbst wenn ich für die nächsten fünf Ewigkeiten hinter Gitter wandern muß. Aber diese Ungewißheit treibt mich zum Wahnsinn.«
Allie nickte. »Mir geht es genauso«, erklärte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, Cam für immer wegzuschicken – aber wenn er bei mir ist, weiß ich nicht, was ich mit ihm reden soll. Ich wünschte, jemand würde mir einen dieser kleinen Foto-Schlüsselanhänger vor die Nase halten, die man früher auf dem Jahrmarkt bekam, und sagen: ›Schau her. Das ist deine Zukunft. Da geht's lang.‹«
Jamie blickte aus dem Seitenfenster und beobachtete einen Vogel – ein etwas absurdes Exemplar, schließlich war es Ende Januar –, der neben dem Auto herflog. »Es läuft also nicht mit dir und Cam?« erkundigte er sich.
»Das ist noch milde ausgedrückt«, gab Allie zu.
»Liegt es an ihm oder an dir?«
An mir , dachte Allie. In mir haust etwas Schreckliches, das ich einfach nicht loswerde. »Ich kann nicht dagegen an, sage Sachen zu ihm, die ich gar nicht sagen will. Wenn ich mit ihm in einem Raum bin, kenne ich mich selbst nicht wieder.«
Aber ich erkenne ihn. Dieser Gedanke kam ihr ganz plötzlich, und sie errötete. Sie merkte, daß Jamie sie beobachtete, und öffnete nervös die Lüftungsklappen, als wäre ihr auf einmal zu heiß in ihrer Haut.
»Weißt du«, sagte er langsam, »Graham hackt dauernd darauf herum, ob ich es für richtig gehalten habe, Maggies Leben zu beenden, oder nicht.«
Allie nickte und versuchte, dem abrupten Themenwechsel zu folgen. »Das ist seine Verteidigungsstrategie, Jamie«, setzte sie ihm auseinander. »Du solltest das nicht persönlich nehmen.«
»Tue ich auch nicht«, erwiderte er. »Nur würde meine Antwort heute anders ausfallen als damals.«
Sie knallte den Fuß auf die Bremse. Reue. Ihr fiel wieder ein, was Graham einmal über diese Verhandlung gesagt hatte: Reue war die Grundvoraussetzung für Gnade. Nur der Mangel an Reue rechtfertigte eine Strafe. »Hast du das Graham gesagt?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Mir ist der Gedanke eben erst gekommen, und ich glaube kaum, daß er denselben Effekt auf ihn hätte wie auf dich.«
»Wie meinst du das?«
»Nach dem, was ich durchgemacht habe, würde ich es mir an deiner Stelle gründlich überlegen, ob ich das aufgebe, was zwischen Cam und dir ist. Damit wäre es ein für allemal verloren, verstehst du?«
Allie lenkte den Wagen an den Straßenrand und legte die Hand auf Jamies Arm. »Das ist eine ganz andere Situation«, beteuerte sie. »Was du mit Maggie hattest, wurde durch etwas zerstört, das nicht in eurer Macht lag. Was Cam und ich hatten, wurde durch ihn zerstört.«
Jamie zog ein Knie an und stützte es gegen das Handschuhfach. »Ich werde dir noch etwas sagen, was ich meinem Anwalt nicht erzählt habe«, fing er an. »Weißt du, wieso ich nicht schlafen kann? Weil ich von Maggie träume. Nicht von ihrem Tod, nicht so wie am Anfang. Ich muß immer daran denken, was passieren würde – was passieren wird –, wenn wir uns wiedersehen. Vergiß die ganze Scheiße, daß sie unheilbar krank war und daß sie selbst darum gebeten hat, getötet zu werden – am Ende läuft es immer darauf hinaus, und das kann dir jeder Geschworene bestätigen, daß ich es getan habe. Ich habe sie umgebracht. Und ich muß mich permanent fragen, ob sie mir das wirklich
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