In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
kam das Moor zum Vorschein. Er sah, wie sich zu seiner Linken und seiner Rechten zwei Armeen sammelten. Eine war blau uniformiert und stand unter einer schottischen Flagge. Die andere, in leuchtendem Rot, sammelte sich unter einem Union Jack. Zweimal griff die rote Armee die blaue an, und zweimal wehrte die blaue Armee den Angriff ab. Beim dritten Mal durchbohrten die Schotten die Engländer mit ihren Schwertern und versprengten alle, die nicht gefallen waren.
Angus sah die Kanonen rülpsen und die singenden Schwerter funkeln, er sah die Standarten im Kugelhagel fallen, doch hörte keinen einzigen Laut. Jedenfalls nicht, bis ein Mann in Blau auf ihn zukam und ihm die Hand entgegenstreckte. Der Mann war so groß, wie Angus es einst gewesen war, und sein Haar leuchtete heller als Feuer. Angus streckte ebenfalls die Hand aus, um dem Mann ein Schwert zu überreichen, und zwar mit dem Heft voran; bei dieser Geste merkte er, wie müde er vom Kämpfen war. Er lächelte, setzte sich auf und spürte dabei, wie die Schmerzen und Knoten in seinen Gliedern dahinschmolzen und wie seine schlaff herabhängenden Muskeln fest und stark wurden. »Komm«, sagte der Blaue, als Angus an seiner Seite losmarschierte, »du gehörst zu uns.«
20
Audra Campbell blickte auf den leeren Platz der Verteidigung und fragte sich, was Graham MacPhee wohl im Schilde führte. Kein Angeklagter, kein Anwalt! Und die Reihe dahinter, in der sich ansonsten die MacDonald-Parteigänger drängten, war verdächtig leer!
Sie kniff die Augen zusammen und klopfte mit dem Stift auf ihren Notizblock.
Erst als die Geschworenen hereingeführt wurden, kam Graham den Mittelgang des Gerichts entlang gerannt. Er blieb gleich stehen und rückte seine Krawatte gerade, als der Richter das Gericht betrat.
»Euer Ehren«, begann er augenblicklich, »ich bitte um Erlaubnis, mich dem Hohen Gericht nähern zu dürfen.«
Roarke winkte Audra und Graham zu sich. »Die Verteidigung bittet um Vertagung«, sagte Graham ruhig. »Angus MacDonald, Jamies Großonkel, ist vergangene Nacht im Schlaf gestorben. Gemäß den Kautionsbedingungen wohnt Jamie bei Angus.«
Roarke runzelte die Stirn. Selbst Audra blieb still. »Wieviel Aufschub brauchen Sie, Mr. MacPhee?«
»Bis Montag? Das wäre der Tag nach der Beerdigung.« Roarke donnerte seinen Hammer auf den Tisch. »Der Termin ist vertagt auf Montag morgen neun Uhr.«
Als sie sich vom Richtertisch abwandten, um zu ihren jeweiligen Pulten zurückzukehren, beugte sich Audra zu Graham. »Wenn ich es nicht besser wüßte …«, setzte sie an.
»Reden Sie gar nicht erst weiter«, fiel Graham ihr ins Wort. »Aber ich gebe zu, daß Angus' Heimgang sich als weiterer Gnadenakt erweisen könnte.«
Die Geschworenen mochten Watchell Bud Spitlick. Er saß mal so, mal so im Zeugenstand, rutschte auf seinem Stuhl herum und äh-te und hmm-te sich mühsam durch Grahams Fragen. Er trug graue Baumwollhosen und ein weißes Hemd über einem T-Shirt, dessen Aufdruck durch den dünnen Stoff des konservativen Hemdes gut zu lesen war: G OD B LESS A MERICA . Graham hätte ihm nichts Besseres aussuchen können.
»Leben Sie schon lange in Cummington, Sir?«
»Das will ich meinen.« Bud lächelte und zeigte dabei seine Goldkronen. »Ich und die Missus sind hier, seit wir geboren wurden. Wir gehören fast zum Inventar der Stadt. Früher besaßen wir den Gemischtwarenladen …« Er wandte sich an die Geschworenen, um ein bißchen Werbung zu machen. »Vielleicht hat jemand von Ihnen schon davon gehört? Von Spitlick's? Einmal, '89 glaube ich, gab es einen ganzen Artikel über uns im Globe. Jedenfalls wollten wir uns irgendwann zur Ruhe setzen, aber nicht gänzlich, wenn Sie verstehen – darum verkaufen wir jetzt unsere Waren von zu Hause aus.«
»Von zu Hause aus? Können Sie das genauer beschreiben?« Graham wußte verdammt gut, daß dies nichts mit dem Fall zu tun hatte. Aber selbst der zynischste Geschworene würde diesem Mann glauben. Es konnte nicht schaden, ein bißchen dicker aufzutragen.
Bud errötete, so daß seine Nase reliefartig hervorragte. »Also, die Stoffballen haben wir im Wohnzimmer, zusammen mit den Textilwaren. Und es gibt eine ordentliche Auswahl an Kinder-Schlittschuhen; wir nehmen sogar gebrauchte in Zahlung, deshalb kommen viele Eltern zu uns. Dann sind da Süßigkeiten für die Kleinen, ein paar Bestseller im Taschenbuch und ein paar Brettspiele. Eigentlich haben wir ein bißchen was von allem und jede Menge
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