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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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tief und schmerzhaft getroffen wie das, was Allie soeben äußerte.
    Er dachte an Mia; daran, daß es keinerlei Platz für einen Dritten gab, wenn sie beide zusammen waren. »Nein«, beruhigte Cam sie. Er sah Allie in die Augen, streckte die Rechte über den Tisch und faßte nach ihrer. Zum ersten Mal zuckte sie nicht zurück. Ihre Finger bebten in seiner Hand und kamen dann zur Ruhe.
    »Nein«, wiederholte er und verkroch sich nach innen. »Niemals.«
    Nach der Mittagspause saß Jamie wieder auf der Anklagebank und beschwor Maggie herauf.
    Ab und zu stellte Graham ihm eine Frage, aber nur, um Jamie in die richtige Richtung zu lotsen. Jamie begann mit der Nacht des fünfzehnten September, als Maggie vom Arzt heimkam; enden würde sein Bericht damit, daß er vor der Polizeistation von Wheelock vorfuhr und nach seinem Cousin fragte.
    Sie hatte ein rotes Polohemd in den Händen gehalten, als sie ihn bat, sie zu töten. Die Schachtel, in der sie ihre Kleider verstaut hatte, war zu drei Vierteln voll. Ganz oben lagen die BHs, die sie vor der Operation getragen hatte. Er hielt sie an den Händen fest. »Ich will, daß du mich umbringst«, sagte sie.
    »Das ist nicht dein Ernst«, protestierte Jamie wild. »Kommt gar nicht in Frage!«
    Maggie löste sich aus seinem Griff und ließ das Polohemd zwischen ihnen fallen wie eine Blutpfütze. »Laß mich gehen, Jamie«, beharrte sie. »Du bist egoistisch.«
    Er sah, wie ihre zarten Schultern unter der Kraft ihrer Gewißheit bebten, und setzte sich auf ihr Bett, weil er begriff, daß er gleich das Widerwärtigste sagen würde, was ihm einfiel. Nein«, belehrte er sie. » Du bist es!«
    Sie drehte sich um und ließ sich auf der anderen Seite des Bettes auf die Kante sinken. So blieben sie sitzen wie zwei künstliche Figurinen, die Hände im Schoß gefaltet, die Köpfe gesenkt. »Es steht mir zu, egoistisch zu sein«, erklärte Maggie bitter. »Das ist eines der wenigen Privilegien, die mir mein Körper gelassen hat.«
    Jamie hob das rote Hemd auf und warf es in die Schublade zurück. Er faßte in den Karton nach den BHs, die ihm wie eine Kaskade seidener Bänder durch die Finger glitten. Auch sie legte er in Maggies Schublade zurück.
    Sie gingen zu Bett und schliefen so ein, wie sie es am angenehmsten fanden: Maggies Rücken an seinem Bauch, er mit einem Arm unter dem Kissen und dem anderen über ihrer verbliebenen Brust. Irgendwann mitten in der Nacht, als seine Finger sich entspannten, senkte sich seine Hand auf die flache Stelle über ihren Rippen. Er erwachte und merkte, daß er nach ihrer Narbe tastete.
    Sie sog scharf die Luft ein.
    »Tue ich dir weh?«
    Maggie drehte sich in seinen Armen um. »Physisch oder psychisch?« fragte sie und sah ihm dabei direkt in die Augen.
    Sie hatte ihn schon öfter so angesehen. Jamie bezeichnete diese Musterung insgeheim als Medusenblick, weil er ihn auf der Stelle erstarren ließ und ihm jeden Gedanken raubte. Doch diesmal weiteten sich mitten im Blick ihre Augen ein winziges bißchen. Und er wußte, daß sie ihn nicht einmal anflehen konnte, so schrecklich war der Schmerz.
    Er wußte nicht, was es bedeutete, jeden Abend schlafen zu gehen und sich zu fragen, ob man am Morgen wieder aufwachen würde. In den Badezimmerspiegel zu blicken, in die eingesunkenen Augen, auf die kahlen Stellen am Schädel und die zackige Narbe, wo früher einmal eine Brust gewesen war – und dabei Gott zu danken, daß man immer noch auf eigenen Beinen stehen und das eigene Gesicht erkennen konnte.
    Dafür wußte Jamie, wie es war, jeden Abend seine Frau zu küssen und in den Druck der Lippen ein stilles letztes Adieu zu legen, nur für alle Fälle – eine Regung, die man niemals aussprechen durfte, weil man damit nur ihre Angst nährte. Oder nachts immer wieder aufzuwachen und auf ihren Atem zu lauschen. Er wußte, wie todmüde er war, wie er sich jeden Tag dazu zwang, erneut einen Rest Energie aufzubringen.
    Jamie brach das Schweigen. »Willst du nicht lieber Pillen nehmen?« fragte er. »Ich besorge dir welche – ohne einen Notarzt!«
    In der Schwärze der Nacht, während das Haus um sie herum zur Ruhe kam, hatte dieses Gespräch über den Tod sogar etwas Tröstliches. Maggie tastete nach ihm. Es war stockdunkel, doch ihre Handfläche landete genau auf seinem Herzen, als würde sie wissen, daß sie es schon längst festhielt. »Ich möchte, daß du mich dabei berührst«, sagte sie. »Deine Hände will ich auf mir spüren, wenn ich gehe.« Sie drehte sich auf

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