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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Bonsai-Künstler war – einen so riesenhaften, uralten Baum auf einem so winzigen Raum wachsen zu lassen. Aufmerksam verfolgte Allie, wie Mia ihr die verschiedenen Formen skizzierte, alleinstehende und seitwärts geneigte Bäume, Kaskaden, aufrechtstehende, knorrige und auf Felsen wurzelnde Sorten. Wie Mantras wiederholte sie die japanischen Bezeichnungen: Chokkan, Moyogi, Sabamiki.
    Vor einer halben Stunde hatten sie in einer Baumschule ein paar Junge japanische Ahorne gekauft, die Allie jetzt in Bonsais verwandeln würde, ähnlich jenem, den Mia ihr gestern vorgeführt hatte. Mia besaß einen kompletten Werkzeugsatz zur Baumbearbeitung: Säge, Schere, Zangen, Zweigmesser. »Ich bin Chirurgin«, hatte sie gesagt, und Allie lachte, bis sie begriff, daß Mia es ernst meinte.
    Es gab nicht allzu viele Regeln. Am ersten Baum stutzte Mia mit der Säge zwei gegenüberliegende Äste zurück, so daß sich neue Verzweigungen bilden würden. Sie wies Allie an, die Schnitte zu säubern, damit der Baum schneller heilte. Die Blätter ließ sie sie abzupfen.
    »Er sieht kahl aus«, meinte Allie.
    Mia trat zurück und begutachtete ihr Werk. »Das wächst nach«, äußerte sie zuversichtlich. »Er soll nicht zu buschig werden.«
    Den Draht anzubringen, war das Schwierigste. Er sollte in einer Spirale von fünfundvierzig Grad hochsteigen und sich um die Äste des Baumes winden, um sie in die gewünschte Richtung zu biegen. Mehrere Monate sollte er am Baum bleiben, mußte aber jeden Tag abgewickelt und neu angebracht werden, damit er nicht in die Rinde schnitt.
    Ein paar Minuten lang sah Mia Allie bei der Arbeit zu. Man konnte gut mit ihr reden, ihr Dinge beibringen und einiges von ihr lernen. Sie wußte nicht, ob sie Allie wirklich mochte – wirklich, wahrhaftig mochte –, oder ob sie sich nur schnell mit Allie angefreundet hatte, weil sie der erste Mensch war, dem Mia in Wheelock begegnet war. Mia wußte noch, wie sie einst in der sechsten Klasse Freundschaft geschlossen hatte, als sie auf eine neue Schule gekommen war und niemanden kannte – nach einem Augenblick panischer Einsamkeit hatte sie einfach mit den beiden Mädchen herumgealbert, die in der Aula neben ihr saßen. Als zehn Minuten später alle drei aufstanden, hatte Mia ihre kleinen Geheimnisse preisgegeben und im Austausch erfahren, daß Jenna in Billy Geffawney verliebt war und daß Phyllis ein hartgekochtes Ei auf einen Bissen verschlingen konnte. Erst Monate später, als ein enges Netz geteilter Intimitäten sie einhüllte wie ein Wintermantel, erkannte Mia, wie wenig sie mit den beiden Mädchen gemeinsam hatte, denen sie sich zuallererst anvertraute; wie oberflächlich und fremd sie ihr jetzt vorkamen; wie dumm sie gewesen war, sich vor der Zukunft zu fürchten. Jahrelang mied sie die beiden, weil sie stets daran denken mußte, wieviel sie über sie wußten, und immer in der Angst, daß ein einziger, verzweifelter Akt der Verbrüderung sich eines Tages gegen sie wenden könnte.
    Während Allie an ihrem neuen Bonsai arbeitete, holte Mia ihre in Arbeit befindlichen Werke hinten aus dem Mietwagen, mit dem sie in Wheelock aufgekreuzt war. Sie hatte das Auto über Nacht vor der Bücherei stehenlassen. Nachdem Mia mehrmals gegangen war, kehrte sie außer Atem mit einem Stapel von Terrackottaplatten und einem armeegrünen Campingsack zurück. »So!« Sie sah auf den Boden, auf dem jetzt in einem halben Dutzend Behältern und Töpfen überall knorrige und gebeugte Bäumchen standen. »Ich fühle mich fast wie in Kyoto.«
    »Du bist ziemlich weit rumgekommen, wie?« fragte Allie, während sie ein Stück Kupferdraht zurechtbog. »Von wo stammst du eigentlich?«
    Mia schüttelte den Kopf und machte sich daran, die Töpfe nach hinten zu tragen. »Ich komme von überall«, rief sie zurück. »Nirgendwo habe ich lang genug gelebt, um wirklich sagen zu können, ich komme ›von dort‹.«
    »Warst du ein Armee-Sproß?«
    Mia blieb auf der Türschwelle stehen. »Nein«, entgegnete sie. »Meine Eltern wohnen immer noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin.« Sie stellte zwei Schalen auf Allies Schreibtisch ab und schleifte dann den Stuhl in die Arbeitsecke. Gedankenverloren nahm sie Allie den Draht aus der Hand und korrigierte eine Schlinge, die um einen Ast führte. »Und du bist in Wheelock aufgewachsen?«
    Allie nickte. »Cam auch.« Sie lächelte. »Ich glaube, ich kenne ihn schon seit meiner Geburt.«
    Mia konnte sich das gut vorstellen; einen Augenblick sah sie eine

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