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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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MacDonald.
    Er sah ein bißchen abgerissen aus, als er hereintrat. Sein Hemd war verknittert, weil er darin geschlafen hatte; auf seinem Kinn wuchsen feine rote Stoppeln. Caseys fleischige Hand umspannte seinen Oberarm, und seine Handgelenke steckten in alten Handschellen. »Mr. MacDonald.« Allies Kehle war plötzlich trocken. Was sagt man zu jemandem, der seine Frau umgebracht hat?
    »Bitte«, murmelte er und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, »nennen Sie mich Jamie.«
    »Dann nennst du mich Allie«, entschied sie und atmete tief durch. Sie lächelte, setzte zu einer Frage an und hielt inne. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Ich kann dich wohl kaum fragen, wie es dir geht, oder?«
    »Du kannst fragen, was du willst«, erwiderte Jamie. »Ich weiß nur nicht, ob ich dir darauf antworte.« Er beugte sich vor, um die Arme auf die Knie zu stützen, eine unvermutete Bewegung, die Allie in ihrem Stuhl zurückzucken ließ. Jamie sah sie an. »Ich tue dir nichts«, versicherte er.
    »Ich weiß«, flüsterte Allie. Sie faltete die Hände im Schoß und merkte, daß sie immer noch die getrockneten Blumen darin hielt. Nervös streckte sie Jamie den Strauß entgegen. Er faßte mit seiner in Ketten gelegten Hand danach, und seine Finger berührten ihre dabei. Sie war überrascht, wie warm und weich sie waren, so als könnten sie allein aufgrund ihrer Struktur unmöglich Gewalt ausüben.
    »Ein Einzugsgeschenk«, meinte er trocken und drehte das kleine Sträußchen in den Händen.
    Allie biß sich auf die Lippe. Das hier lief nicht so, wie sie es geplant hatte. Sie hatte sich ausgemalt, wie eine zweite Florence Nightingale in der Polizeistation zu erscheinen und Jamie sein Herz ausschütten zu lassen, bevor der Prozeß begann. Statt dessen hatte sie ihm nichts zu sagen, und Jamie war nicht in der Stimmung für Vertraulichkeiten. Sie wollte ihm schon viel Glück für seine Verhandlung wünschen und davonstürzen, als er sich in seinem Stuhl bewegte und ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zog. »Bist du gegen seinen Willen gekommen?« erkundigte er sich.
    Allie erstarrte. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Es macht bestimmt keinen besonders guten Eindruck, wenn die Frau des Polizeichefs ausgerechnet dem Typen einen Gnadenbesuch abstattet, den er für einen Mörder hält.«
    »Das ist kein Gnadenbesuch«, widersprach Allie hastig. Ihr Blick tastete die Reihe von Anschlagtafeln hinter Jamies Kopf ab, die Cam geschickterweise hier angebracht hatte, wo die Teilzeitbeamten sie in aller Ruhe studieren konnten: interne Bekanntmachungen, Wocheneinsatzpläne, die Fahndungsplakate des FBI.
    »Nein? Dann handelt es sich wohl um einen Freundschaftsbesuch.« Er sah sie an. »Was passiert, wenn dein Mann herausfindet, daß du mich besucht hast?«
    Allie zuckte mit den Achseln, aber die Geste wirkte eher wie ein Schaudern. Cam würde nicht schreien, er würde ihr ganz bestimmt nicht drohen, aber sich zurückziehen. Er würde annehmen, daß sie nicht auf seiner Seite stand oder daß sie nicht an ihn glaubte, und weil das in den fünf Jahren ihrer Ehe noch nie vorgekommen war, würde es ihn bis ins Mark treffen. »Es hat nichts mit dir zu tun oder damit, weshalb du jetzt hier bist, Jamie«, sagte Allie langsam und bahnte sich dabei vorsichtig einen Weg durch ihr Herz. »Ich will ihm nur nicht weh tun.«
    Ein Lächeln stahl sich auf Jamies Gesicht und verwandelte ihn so vollkommen, daß Allie ihn nicht wiedererkannt hätte, wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre. »Dann bist du diejenige.«
    Allie blinzelte. »Diejenige?«
    »Die mehr liebt.« Er kam näher an den Tisch, und die Handschellen klirrten gegen die Metallkante, weil er unabsichtlich zu gestikulieren versuchte. »Weißt du, in einer Ehe ist die Liebe nie fünfzig zu fünfzig verteilt. Sondern immer siebzig zu dreißig oder sechzig zu vierzig. Einer von beiden verliebt sich zuerst. Einer von beiden stellt den anderen auf ein Podest. Einer von beiden gibt sich alle Mühe, damit alles glatt läuft; der andere segelt einfach so mit.«
    Allie öffnete den Mund, um zu protestieren, stellte dann aber fest, daß Jamie sie nicht einmal ansah. »Als ich Maggie das erste Mal sah, stand sie bis zu den Knien im Wasser dieses kleinen Ententeichs und schrubbte mit einer langstieligen Bürste den Boden. Ich dachte, sie arbeitet für die Stadt, aber später hat sie mir erzählt, daß sie einmal im Monat den Teich putzte, weil sich sonst niemand darum kümmerte. Sie trug eine gelbe

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