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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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überleben. »Sie tragen Boxershorts, keine Slips; als Kind war Ihr Haar eher blond als rötlich; Sie lassen Ihre Uniformen in Hancock reinigen.«
    »Und Allie?«
    Mia zupfte am Bettüberwurf. »Zu ihr bin ich noch nicht vorgedrungen.« Ihre Mundwinkel hoben sich. »Ich habe auch Ihre Schmuddelhefte gefunden«, sagte sie. »Die Reisezeitschriften, die Sie im Werkzeugkasten verstecken!«
    Cam nahm einen zweiten Stapel Fotos aus Mias Hand. Es störte ihn nicht, daß sie von den Zeitschriften wußte, es störte ihn längst nicht so sehr wie gestern, als Allie darauf gestoßen war. Vielleicht weil er wußte, daß Allie ihn unmöglich verstehen konnte. Mit jemandem, der nicht einmal merkte, daß er im Käfig saß, konnte man nicht über Freiheit sprechen.
    »Ich habe den Artikel über Tibet gelesen«, gestand Mia.
    Cam nickte. »Waren Sie mal dort?« fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. Vornübergebeugt sammelte sie die letzten verstreuten Fotos vom Boden auf. Sie sah ein paar Schnappschüsse von Allie als Kind durch; Cams Hochzeitsbild in seiner atemberaubenden Highland-Tracht. Sie schien nach etwas Bestimmten Ausschau zu halten, deshalb blätterte Cam ratlos seinen Stapel durch, als könne er dadurch ergründen, wonach sie suchte.
    »Hier«, sagte sie und hielt ein Foto hoch, auf dem ein üppiges grünes Tal zu sehen war, umgeben von lauter Bergen und mit einem beeindruckenden weißen Bergfried links. »Da bin ich gewesen.«
    Cam stutzte. »Das ist nicht Ihr Ernst!«
    »Ist doch in Schottland, oder?« fragte Mia. »In der Nähe von Glencoe?« Sie fuhr mit der Hand über die zusammengefaltete Schottendecke am Fußende des Bettes. »Ist das der Ort, wo Sie alle herkommen?«
    Er sah in Mias dunkelblaue Augen, dachte, daß dies alles ein bißchen zu phantastisch war, um ehrlich zu klingen, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Beweisen Sie's«, forderte er.
    Später sollte sich Cam fragen, ob alles anders gekommen wäre, hätte Mia ihm die Anzahl der Pflastersteine vor dem Haupthaus nennen können, die er als Kind gezählt hatte, wenn ihn die Erwachsenengespräche drinnen langweilten; oder wenn sie sich daran erinnert hätte, daß unter dem Rosenbusch links vom Tor ein kleiner Grabstein für einen alten Terrier stand, der früher dort immer Wache gehalten hatte. »Es ist so lange her«, sagte sie, »und alles, woran ich mich noch erinnere, sind Dinge, die ich auch von einer Postkarte haben könnte.« Sie zuckte kurz die Achseln und starrte auf die Haut unter seiner Kehle, die so dünn und hell war, daß sie darunter das Netz seiner blauen Adern erkennen konnte. »Sie werden mir wohl glauben müssen«, schloß sie.
    Und in diesem Augenblick hielt Cam es für möglich, daß er in Carrymuir jemanden gesehen hatte, der wie Mia Townsend aussah, vielleicht als er mit acht dort gewesen war oder später mit achtzehn. Vielleicht war ihr Schritt trippelnder gewesen; vielleicht das Haar kürzer, aber ganz bestimmt erinnerte er sich an diesen leichten Gang, diesen lustigen Schopf. Und weil er das Gefühl hatte, daß er sich nur auf eine Weise Gewißheit verschaffen konnte, überbrückte er den Abstand zwischen ihnen und küßte sie.
    Sie paßte zu ihm. Durch die Augenschlitze sah er, daß ihre Augen immer noch offen waren, und das wurde sein Ziel: Er wollte sehen, wie sie sich schlossen. Also fuhr er mit der Zunge über ihre Lippen und küßte sie auf die Mundwinkel. Sein Denken war getrübt. Er sagte sich, sobald sie sich unter seinen Händen anspannte, wie leicht auch immer, würde er aufhören. Er sagte sich, er würde bis zehn zählen und warten, was geschah.
    Ungefähr zur gleichen Zeit, als sein Herz wieder zu schlagen begann, wand sich eine ihrer Locken um seinen Finger, als könnte sie ihn dadurch zum Bleiben bewegen.
    Mias Augen schlossen sich, und sie fragte sich, was, in Gottes Namen, sie da eigentlich tat. Das Blut schoß ihr durch die Adern, nicht nur wegen dieses Mannes, dessen große Hände ihr Gesicht umfaßten, sondern weil sie gewußt hatte, daß es so kommen würde, und weil es sich jetzt bewahrheitete.
    Cam barg sein Gesicht an ihrem Hals. Er empfand das für einen Mann, der sich nach langen Reisen sehnte und der die Wohltaten kannte, die eine Ehefrau, eine feste Arbeit und ein Bankguthaben spendeten, höchst eigenartige Gefühl, heimzukehren. Unter seinen Lippen spürte er die Schwingungen ihrer Stimme, die sekundenlang in ihm nachsummten, bevor die Worte in ihn einsickerten.
    »Ich muß gehen«, sagte Mia.

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