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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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spürte die Sonne im Genick und sah die Schneefinken auf den schmalen, lila Paß in den Bergen einige Meilen entfernt zufliegen. Mit jedem Rückschwung atmete er ein, mit jedem Vorschwung aus, und verlor sich in seinen Träumen.
    Er war in Neuseeland, wo er riesige Regenbogenforellen fischte. In der Wildnis Alaskas, wo das hohe Gras an seinen Beinen brannte, während er die Angel nach Lachsen auswarf. Mit einem tiefen Atemzug sah er sich in Montana stehen und zwei Leitschnüre zu einem Knoten verbinden, um damit Flußforellen zu erwischen. Er war am Loch Leven, wo er sich immer zu Hause gefühlt hatte und wo sich unter seinem kleinen, schaukelnden Boot Saiblinge und Kelpie-Geister in den Buchten versteckten.
    »Auf Reisen?« fragte Allie.
    Er blinzelte. Sie lächelte ihn an, und es überraschte ihn, daß sie ihn so durchschaute.
    Cam schüttelte den Kopf. »Du bist dran«, sagte er und streckte ihr die Rute hin.
    Sie stellte sich in seine Arme. Cam blieb direkt hinter ihr und schob die Rute unter das Band ihrer Armbanduhr. »So!« Er legte ihre Hand um den Korkgriff. »Jetzt kannst du das Gelenk nicht abwinkeln.« Er zog ihren Arm nach hinten, beobachtete dabei die Leine über ihren Köpfen, und drückte ihn dann wieder nach vorne. »Die Leine soll nicht klatschen«, fuhr er fort. »Wenn du zurückziehst, mußt du zuschauen, wie sich die Leine spannt. Sie wird straff, und irgendwann löst sich diese Schlinge … wenn sie so steht, siehst du? Genau dann holst du sie wieder vor.«
    Allie spürte, wie sich ihre Schulter in seine Brust drückte, wie sich seine Finger über ihren schlossen. Er zog ihren Arm in einer langsamen, gleitenden Pendelbewegung vor und zurück, und vermittelte ihr dabei die Geschmeidigkeit, die sie wenige Augenblicke zuvor an ihm beobachtet hatte. Sie schloß die Augen und hatte plötzlich das Gefühl, von ihm zum Tanz aufgefordert zu sein.
    Zurück , zwei, drei, vor , zwei, drei. Zurück, zwei, drei, vor,
    zwei, drei. Allie sah sich durch einen leuchtenden, säulenbestandenen Ballsaal wirbeln, unter ihren Händen Cams feinen Abendanzug. Für einen Augenblick konnte sie den kommenden Winter riechen, die Schwere der Luft sehen, ihr Blut fließen spüren und wußte, daß sie und Cam perfekt harmonierten. O ja, dachte sie, das ist ein Wunder.
    »Jetzt probier's mal«, sagte Cam, trat zurück, und plötzlich stand Allie allein und verlassen da. Sie hob die Angelrute, versuchte auf Cams unsinnige Anweisungen zu hören, sie solle die Angel auf zehn Uhr heben, auf ein Uhr heben, das Gelenk gerade halten, die Leine präsentieren. Den Rhythmus versuchte sie zu halten, indem sie ein Lied dazu summte; aber in ihrem Kopf war nur noch Platz für den einen Gedanken, daß Cam jetzt die Darbietungen ihres Körpers beobachtete, so wie sie zuvor seinen. Sie wurde rot und wünschte sich, er würde sie wieder in die Arme nehmen.
    Es wurde Nachmittag, ehe Cam Allie für würdig befand, seine geheiligte Fliegenangel über den Wee Loch zu halten, jenen kleinen See, der für die Gründung des Ortes verantwortlich war. Cam schnürte das Kanu der Marke ›Old Town‹ auf das Dach von Allies Auto und fuhr zur Bootsrampe. Dort ließ er Allie vorne ins Kanu steigen und paddelte dann ans gegenüberliegende Ufer, wo sie am ehesten Barsche finden würden.
    »Okay«, sagte Cam schließlich. »Jetzt sind wir am Geheimplatz.« Allie sah auf die Lilien und Baumstümpfe, mit denen die kleine Bucht übersät war, in die Cam sie gerudert hatte. Dann bewegte sich Cam etwas abrupt. Das Kanu schwankte sacht von einer Seite auf die andere, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, und Allie klammerte sich erbleichend an die Reling. »Cam«, keuchte sie. »Bitte nicht.«
    Als sie sich so weit gefaßt hatte, daß sie sich umdrehen konnte, versuchte Cam gerade, eine Fliege an der Angelschnur zu befestigen. »Was soll ich nicht? Die getrocknete Fliege nehmen?« Stirnrunzelnd blickte er auf seine Hand. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht wäre eine Nymphe …«
    »Cam«, setzte Allie erneut an, »ich hasse Boote!«
    Das war eine Untertreibung. Sie verabscheute zutiefst das Gefühl, wenn die Welt unter ihren Füßen zu schaukeln begann; und im Grunde konnte sie sich für keine Sportart im Freien erwärmen. Während Cam die gemütliche Überfahrt über den See damit verbracht hatte, im Vorbeigleiten die verschiedenen Vogel- und Baumarten zu benennen, hatte Allie die Mückenstiche auf ihrem Arm gezählt. Sie hatte nur wenig für die wilde Natur

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