In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
murmelte sie. Urplötzlich stand sie auf einem rasenbewachsenen Abhang und blickte hinunter zu dem neuen Ziegelbau mit den glänzenden Fahrradständern und den hölzernen Klettergerüsten. Sie spürte den Wind in ihren Haaren, hörte den Lärm spielender Kinder. Verblüfft ging Allie in die Hocke und strich mit der Hand über das Gras. Sie hätte schwören können, in ihrem Handschuh die saftigen Gräser und stacheligen Stoppeln einer frischgemähten Wiese zu spüren. »Jamie«, flüsterte sie, »du bist ein Genie.«
Sie stand auf, ging los und fragte sich, warum sie nicht in den Computer krachte, der genau vor ihr stehen mußte – aber unter ihr befand sich offenbar eine bewegliche Plattform, die ihr ganz entgangen war. Am Schuleingang blieb sie stehen und zog an der schweren Aluminiumtür. Sie schwang bei der ersten Berührung auf, doch da hatte Allie bereits gemerkt, daß ihre Hand, die sich bestimmt nur um leere Luft schloß, auf einen Türgriff und einen Widerstand traf.
In der Aula gab es eine Vitrine mit Preisen und lustige Kindergemälde, deren Ecken sich aufbogen wie Augenwimpern. Allie prüfte gerade das Klebebild eines Künstlers, als die körperlose Stimme sie herumwirbeln ließ. »Bitte wählen Sie die Gestalt aus, die Sie während Ihrer Führung annehmen möchten.« Jetzt tauchten vor ihren Augen verschiedene Figuren auf: eine Frau, ein Kind, ein Mann, ein Junge im Rollstuhl. Nicht sicher, warum sie nach ihrer sexuellen Natur und ihren physischen Möglichkeiten gefragt wurde, deutete Allie auf die ihr am nächsten schwebende Gestalt. »Weiblich«, dröhnte die Stimme. »Erwachsen.«
Das winzige Bild wuchs immer weiter an, bis Allie merkte, daß sie jemandem gegenüberstand. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete aufmerksam das dichte Haar, das arglose Lächeln, das unzweifelhafte Bild von Maggie MacDonald.
»Treten Sie vor«, lud Maggie sie ein, und Allie fragte sich, ob das ihre richtige Stimme war. Sie machte einen Schritt vorwärts, und dann auf Maggies Drängen hin noch einen, bis sie begriff, was Maggies Bild wollte: Allie sollte im wahrsten Sinne des Wortes in sie hineinlaufen. Natürlich, dämmerte es Allie. Auf diese Weise sollte der Computer den Benutzer beziehungsweise sie selbst in der Schule ›sehen‹, so hatte es Jamie gewollt. Allie fiel der Blitz wieder ein, als sie sich vor den Computer gesetzt hatte – es mußte eine eingebaute Kamera gewesen sein, die ihre Gesichtszüge aufgenommen hatte, um sie auf diese einprogrammierte weibliche Gestalt zu übertragen. Auf diese Weise konnte sie während des Rundganges ihre Hand nach irgendwelchen Dingen ausstrecken und würde eine weibliche Hand sehen; und wenn sie in einen Toilettenspiegel schaute, blickte ihr ihr eigenes Gesicht entgegen.
Mit aufgerissenen Augen trat Allie in Maggies Körper, auch wenn das Gefühl, unter der Haut eines anderen Menschen zu stecken und durch geliehene Augen in die Welt zu blicken, sie schaudern ließ. Und sie fragte sich, ob der Kummer, der sie dabei überkam, von Jamie beabsichtigt war, ob sie ihn sich nur einbildete oder ob er ein so wesentlicher Teil von Maggie gewesen war, daß er nun durch die Gänge dieser ungebauten Schule schwebte wie ein unerlöster Geist.
Cam saß im Blumenladen am Arbeitstisch und schaute zu, wie Mia den Draht um die acht Bonsaibäume neu wand. »Sieht aus, als würde das weh tun«, bemerkte er.
Mia lächelte. »Wann bist du denn das letzte Mal mit Kupferdraht umwickelt worden?«
Cam lachte. » Das nenne ich eine Idee.«
Es war sein dritter Abend mit Mia. Abgesehen von seiner Mutter, die tags zuvor zu einem so unglücklichen Moment aufgetaucht war, hätte ihn niemand verdächtigt, sich irgendwie ungehörig zu verhalten. Und selbst sie hatte keine Beweise. Cam verhielt sich während des Tages so wie immer, ging zur Arbeit, prüfte die Einsatzpläne, das Gerichtsbuch, erledigte sein Pensum. Doch pünktlich um sechs Uhr abends schloß er sein Büro ab und erzählte Hannah, daß er Mia Townsend zum Abendessen ausführen würde. Daß Allie ihn gebeten hätte, sich um sie zu kümmern.
Er war der Meinung, die halbe Wahrheit zu erzählen, wäre auf lange Sicht vielleicht klüger, als direkt zu lügen.
Danach ging er zum Laden, blieb dabei auf einen kurzen Plausch bei den Alten vor dem Café und auf den Stufen vor der Post stehen; schließlich klopfte er an die abgeschlossene Tür. Wenn Mia ihm öffnete, wurden seine Sinne jedesmal von dem frischen, süßen Duft der Blumen
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