In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
überwältigt, die sie den Nachmittag über zu Sträußen gebunden hatte. Jedesmal sah sie vollkommen überrascht aus, ihn zu sehen, zog ihn dann aber ins Innere, schloß die Tür hinter ihm ab und küßte ihn, während ihre Finger die kurzen Muskeln seines Rückens kneteten.
Die erste Nacht würde er zeit seines Lebens nicht in Worte fassen können. Mia zu lieben war ein bißchen, als wäre er eines Morgens aufgewacht und hätte die Farbe Grün entdeckt. Plötzlich sah man sie im Gras, in den Bäumen und auf den Straßenschildern – und faßte es nicht, wie man so viele Jahre seines Lebens ohne diesen Farbton hatte leben können, der der übrigen Welt erst Sinn zu verleihen schien.
Heute abend hatte er ihr beim Arbeiten zugesehen, wohl wissend, wie flink und sanft ihre Hände agieren, formen und gestalten konnten. Sie begann, die Erde rund um die Wurzeln eines chinesischen Wacholders aufzulockern. »Erzähl mir, wie du als Kind warst«, sagte sie. »Ich will wissen, was ich verpaßt habe.«
Cam grinste. »Mit sechs Jahren habe ich den Abfluß in der Dusche neben dem Schlafzimmer meiner Mutter verstopft. Es war so eine Glaskabine, weißt du, und ich dachte, ich könnte mir einen eigenen Swimmingpool für den Winter bauen. Das Wasser drang durch die Decke und hat unten den Eßtisch versenkt.«
»Ah«, sagte Mia, trat hinter ihn und fuhr mit der Hand über seinen Nacken. »Das verrät eine Menge.«
»Ich habe immer Münzen zwischen die schwarzen und weißen Tasten auf dem Klavier gesteckt«, fügte Cam hinzu.
»Bestimmt.« Sie schlang die Arme um ihn.
»Meine Mutter pflegte zu orakeln«, murmelte er, während er Mias Lippen auf seinem Hals spürte, »daß ich mit einem Bein in der Hölle stünde.«
Sie kam wieder nach vorne und setzte sich auf seinen Schoß. Cam spürte die Wärme ihrer Haut durch alle Kleiderschichten. »Und jetzt«, sagte Mia und küßte ihn, »hast du es ganz geschafft.«
Er stand auf und trug sie zum Sofa. Als er seinen Kopf zu ihr herabbeugte, legte sie ihre Hand auf seine Lippen. »Erzähl mir dein größtes Geheimnis«, bettelte sie.
Cam lachte. »Ich wäre gern Reiseschriftsteller geworden«, gestand er, und sein Atem strich warm über ihre Kehle. »Ich wollte nach Yucatan gehen, nach Singapur, nach Culebra und Prag – und der Welt erzählen, was sie alles verpaßt.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich wäre ein guter Schriftsteller geworden«, beteuerte er. »Ganz bestimmt.«
Mia stellte sich Cam auf den Stufen des weißen Tempels in Sagaing vor, an den grauen Fluten des Irawaddy in Burma. Sie sah einen Stift hinter seinem Ohr klemmen und ein Notizbuch in seiner Hosentasche. »Warum bist du keiner geworden?« fragte sie.
»Ich mußte heimkommen«, sagte er. »Als mein Vater starb, sollte ich Clanchef werden. Das geht nicht ohne festen Wohnsitz.«
»Du könntest umsatteln.«
Cam schloß die Augen und stellte sich Mia in weißem Leinen vor, barfuß und sonnenverbrannt an seiner Seite auf einem Katamaran, der sich zwischen Sail Rock, Mustique und den anderen Inseln vor dem Wind hindurchschlängelte. Er zuckte mit den Achseln, schob zur Seite, was nicht sein sollte, und legte einen Finger auf Mias Wange.
»Und was ist dein größtes Geheimnis?« wollte er wissen.
Mia blinzelte ihn an. »Ich liebe dich«, sagte sie.
Die Worte betäubten ihn. Es waren schlichte Worte, er hatte gewußt, daß sie kommen würden, und er hatte sie Millionen Male von seiner Frau gehört. Er wußte nicht warum, doch so wie Cams Seele Mia gehörte, so gehörte diese Aussage nur Allie. Er wollte sie nicht aus Mias Mund hören, konnte sie nicht ertragen von ihr; denn sie erinnerte ihn an den kolossalen Preis, den er zahlen, und an die Schmerzen, die er verursachen mußte, um sich zu nehmen, was ihm seiner Meinung nach von Anfang an zustand.
Cam rollte sich von Mia weg und setzte sich auf den Boden. Er stützte den Kopf in die Handwurzeln und atmete tief durch.
Mia huschte in die Sofaecke, und als er sich umdrehte, hatte sie sich zu einem Ball zusammengekauert, als würde sie sich kleiner machen wollen als überhaupt möglich. »Das hätte ich nicht sagen sollen«, murmelte sie und zupfte dabei an der Haut unter den Nägeln. »Es tut mir leid.«
Cam faßte hinter sich und drückte ihre Hand. »Es braucht dir nicht leid zu tun«, beschwichtigte er. Er zögerte und bedachte die Wehrzäune, die sein Geist bereits gegen das Feuer errichtete, das von seinem Bauch aufwärts in seinen Hals kroch.
Weitere Kostenlose Bücher