In einer Winternacht
inzwischen geschlossenen Kleiderladen. Fünf Minuten später traf Gracie Nuñez atemlos ein.
»Meine Chefin«, stöhnte sie und verdrehte die Augen. »Wir mußten noch ein paar Röcke fertigkriegen, und zwei der Mädchen sind nicht zur Arbeit erschienen. Wenn ich gesagt hätte, daß ich Kinder habe, um die ich mich kümmern muß, hätte ich meinen Job riskiert. Gott segne Sie, Schwester. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wieviel es mir bedeutet, daß die Kinder bei Ihnen gut aufgehoben sind. Jerry, sag gute Nacht zu Schwester Maeve und bedanke dich.«
Stellina hatte diese Ermahnung nicht nötig. »Gute Nacht, Schwester«, meinte sie leise. »Und vielen Dank.« Dann lächelte sie, was bei ihr selten vorkam. »Nonna ist so glücklich, daß ich die Muttergottes spielen darf«, fügte sie hinzu. »Jeden Abend hört sie mich meinen Text ab und nennt mich dabei Madonna.« Maeve schloß die Tür hinter ihnen ab und löschte das Licht. Cordelia war entweder noch bei Kate Durkin oder stattete auf dem Heimweg ein paar alten Damen einen Besuch ab. Maeve stieß einen Seufzer aus. Ihr graute schon vor der Nachricht, die sie zu Hause wahrscheinlich zu hören bekommen würde. Während sie ihren Mantel anzog, klopfte es ans Schaufenster. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Mann Anfang Vierzig, dessen Gesicht von der Straßenlaterne beleuchtet wurde. Schwester Maeve, ganz Ex-Polizistin, musterte ihn argwöhnisch. »Schwester, ist meine kleine Tochter noch da? Stellina Centino«, rief er.
Stellinas Vater! Rasch öffnete Maeve die Tür. Mit geübtem Blick taxierte sie den mageren Mann. Er sah zwar recht gut aus, machte aber einen schmierigen Eindruck und erweckte sofort ihr Mißtrauen. »Tut mir leid, Mr. Centino«, sagte sie kühl. »Wir haben Sie nicht erwartet. Stellina ist wie immer mit Mrs. Nuñez nach Hause gegangen.«
»Ach ja, schon gut«, erwiderte Lenny Centino. »Hab ich vergessen. Ich bin beruflich oft verreist. Okay, Schwester, dann also bis nächste Woche. Ich werde sie von nun an hin und wieder abholen. Mit Star essen und vielleicht ins Kino gehen, um ihr eine Freude zu machen. Sie ist ein richtig hübsches Mädchen geworden.«
»Sie können stolz auf sie sein. Sie ist in jeglicher Hinsicht ein wunderbares Kind«, entgegnete Schwester Maeve Marie knapp. Sie stand in der Tür und blickte ihm nach. Irgend etwas war mit diesem Mann nicht in Ordnung.
Immer noch in Sorge um Schwester Cordelia machte sie ihre letzte Runde, schaltete die Alarmanlage ein und ging durch das Schneetreiben nach Hause. Ein Sturm kam auf.
Schwester Cordelia saß mit Schwester Bernadette und Schwester Catherine zusammen, zwei alten Nonnen, die schon im Ruhestand waren und die Wohnung mit ihr teilten. »Maeve, ich bin völlig erschöpft«, sagte Cordelia und erzählte von Bessie Durkin Mahers überraschend aufgetauchtem Testament. Maeve, die sofort mißtrauisch wurde, stellte einige Fragen zu dem Dokument. »Weist abgesehen von dem Wort ›ursprünglich‹ sonst noch etwas auf eine Fälschung hin?«
Cordelia lächelte müde. »Nur Alvirahs sechster Sinn«, antwortete sie.
Schwester Bernadette, die bald ihren neunzigsten Geburtstag feiern würde, hatte in einem Sessel vor sich hingedöst. »Alvirahs sechster Sinn und etwas, das der Herr uns gesagt hat, Cordelia«, mischte sie sich nun in das Gespräch ein. »Ihr alle wißt, was ich meine.«
Sie lächelte, als sie die verdatterten Mienen ihrer Mitschwestern sah. »›Lasset die Kindlein zu mir kommen.‹ Ich glaube nicht, daß Bessie das vergessen hat, auch wenn sie noch so stolz auf ihr Haus war.«
8
S
tellina bewahrte den Wohnungsschlüssel in einer mit einem
Reißverschluß versehenen Tasche ihrer Jacke auf. Nonna hatte ihr den Schlüssel gegeben und ihr das Versprechen abgenommen, niemandem davon zu erzählen. Inzwischen schloß Stellina die Tür immer selbst auf, damit Nonna, die sich in letzter Zeit öfter hinlegte, nicht eigens aufstehen mußte.
Früher, wenn Stellina aus der Schule kam, hatte Nonna immer in dem kleinen Zimmer genäht, in dem Daddy schlief, falls er zu Hause war. Sie hatten zusammen Milch getrunken und Plätzchen gegessen. Und wenn Nonna Kleider ausliefern oder bei einer Kundin Maß nehmen mußte, hatte Stellina sie begleitet und ihr beim Tragen der Taschen und Kartons geholfen.
In letzter Zeit jedoch mußte Nonna häufig zum Arzt, und deshalb hatte Mrs. Nuñez vorgeschlagen, daß Stellina nach dem Unterricht die Kindertagesstätte besuchen sollte.
Manchmal, wenn
Weitere Kostenlose Bücher