In einer Winternacht
Leim macht man auch kein neues Haus mehr daraus. Da hilft nur noch die Abrißbirne. Jedenfalls werde ich heute noch eine Stunde Klavier üben. Cordelia hat mich gestern ›Stille Nacht‹ spielen hören, nachdem ich mit dem Wasserrohr fertig war. Und jetzt hat sie beschlossen, daß ich dieses Lied nach dem Krippenspiel vortragen soll. Sie hat die komische Vorstellung, die Kinder würden sehen, daß man auch im Alter noch dazulernen kann, wenn ich mitmache.«
»Das ist doch wundervoll!« rief Alvirah aus und strahlte ihn an.
»Nun, ich finde die Idee ziemlich dämlich«, sagte Willy. »Aber Kinder sind zum Glück unvoreingenommen, und die Eltern werden nur Augen für ihren Nachwuchs haben. Also wird mich vermutlich niemand bemerken… Und was hast du heute vor?«
»Zuerst besuche ich Kate. Du weißt ja, wie es ist. Nach dem Tod eines nahen Verwandten hat man in den ersten Tagen das Haus voller Leute. Und irgendwann wacht man auf, und es wird einem klar, daß man den Verstorbenen nie wiedersehen und nie mehr seine Stimme hören wird. Dann braucht man dringend gute Freunde. Insbesondere in Kates Fall, denn sie trauert nicht nur um Bessie, sondern muß sich zu allem Überfluß noch mit Betrügern herumschlagen. Danach schaue ich bei Monsignore Tom vorbei und erzähle ihm, wer die junge Frau ist, die sich um St. Clement herumdrückt.«
Rasch wie immer räumte Alvirah die Küche auf, machte die Betten, duschte und schlüpfte in den schlichten, aber eleganten Hosenanzug, den ihre Freundin Baroneß Min von Schreiber bei ihrem letzten Besuch an der Ostküste für sie ausgesucht hatte. Wie Min nicht müde wurde zu betonen, neigte Alvirah dazu, die verschiedensten Farben und Stilrichtungen wahllos miteinander zu kombinieren. Alvirah hatte sich dem modischen Urteil ihrer Freundin gebeugt.
Als sie gerade gehen wollte, hörte sie Willy am Klavier »Stille Nacht« üben. Stolz stellte sie fest, daß sein Spiel immer besser wurde. Leise summte sie den Text mit, und besonders die Zeile »Alles schläft, einsam wacht« bekam in diesem Moment für sie eine besondere Bedeutung. Nun, ich wache über dich, Kate, dachte sie.
Bei ihrer Ankunft verkündete Kate ruhig und entschieden, sie habe nachgedacht und den Beschluß gefaßt auszuziehen, und sei es in ein möbliertes Zimmer. Wenn Bessie den Bakers das Haus vermacht habe, müsse sie sich eben damit abfinden. Der Wortlaut des Testaments sei eindeutig, und immerhin habe Bessie ihr ein Einkommen vermacht und sie zur Benutzung der Wohnung im oberen Stockwerk berechtigt. »Aber ich kann nicht unter einem Dach mit diesen Leuten leben, Alvirah«, sagte Kate. »Und wenn ich daran denke, wie die arme, kranke Bessie am Schreibtisch ihr Testament tippte und wartete, bis ich weg war, bevor sie die Zeugen kommen ließ, versetzt es mir einen Stich ins Herz.«
»Kate, du hast mich gerade an etwas erinnert, das ich vergessen hatte. Das Testament wurde doch am letzten Montag, dem 30. November unterschrieben. Doch datiert ist es vom 28. November.«
»Genau. Am Tag, nachdem Bessie dem Monsignore sagte, ihr behage die Vorstellung nicht, das Haus in eine Kindertagesstätte zu verwandeln. Am Wochenende hat sie noch darüber gewitzelt, es sei meine Aufgabe, mich mit den Kindern herumzuschlagen. Und dann hat sie hinter meinem Rücken ihr Testament geändert.«
»Wie oft warst du am letzten Wochenende weg?« fragte Alvirah.
»Nur in der Morgenandacht, am Samstag und am Sonntag. Doch Bessie konnte sehr schnell tippen. Du weißt ja, wie stolz sie darauf war. Für dieses Testament hätte sie höchstens zwanzig Minuten gebraucht.«
»Ach, Kate!« seufzte Alvirah. Es tat ihr weh, ihre alte Freundin anzusehen. Kates Kampfgeist war verschwunden. Mutlos ließ sie die Schultern hängen, und ihr zierlicher, drahtiger Körper wirkte schlaff. Alvirah wußte, daß es keinen Zweck hatte, mit ihrer Freundin zu streiten – ihr Entschluß stand fest. Alvirahs einzige Chance war, Zeit zu gewinnen.
»Kate«, sagte sie. »Tu mir bitte einen Gefallen. Ich habe mich über die Bakers erkundigt und bereits herausgefunden, daß sie als Trickbetrüger bekannt sind. Allerdings sind sie noch nie verhaftet worden – noch nicht! Gib mir Zeit bis Weihnachten, um zu beweisen, daß Bessie dieses Testament nicht verfaßt hat. Auch wenn es aussieht, als ob die Unterschrift von ihr stammt, glaube ich, daß sie gar nicht wußte, was sie da unterschrieb.«
Kate riß die Augen auf. »Ach, Alvirah, so etwas kann man nicht beweisen.«
»Kann man
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