Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Winternacht

In einer Winternacht

Titel: In einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
Vom Netzwerk:
gestreiften Bezug des Sofas zu einem bunten Kaleidoskopmuster. Ich hätte heute nacht entweder wachbleiben oder gleich alle Tabletten auf einmal nehmen sollen, schoß es ihr durch den Kopf. Doch dann schüttelte sie sich. So ein Feigling bin ich nun auch wieder nicht, dachte sie.
    Sie stellte sich unter die Dusche, ließ sich das heiße Wasser ins Gesicht prasseln und wusch sich das Haar. Danach fühlte sie sich ein wenig klarer im Kopf. Sie schlüpfte in einen Frotteebademantel, wickelte sich ein Handtuch um die nassen Haare und zwang sich, beim Zimmerservice zu dem üblichen Kaffee und Orangensaft auch Rührei und Toast zu bestellen.
    Großvater und Gary kommen heute abend an, hielt sie sich vor Augen. Wenn sie mich in diesem Zustand erleben, werden sie mich so lange mit Fragen löchern, bis ich nachgebe und ihnen mein Herz ausschütte. Außerdem muß ich mich heute bei der Probe konzentrieren. Und morgen noch mehr, denn dann will Großvater zuhören. Ich muß ihm das Gefühl geben, daß meine Leistung den jahrelangen Unterricht und die Opfer wert ist.
    Sondra stand auf und ging zum Fenster. Heute ist Dienstag, der 15. Dezember, dachte sie, während sie auf die Straße hinunterblickte, wo es bereits von Autos und Fußgängern auf dem Weg zur Arbeit wimmelte.
    »Das Konzert findet am nächsten Mittwoch statt«, überlegte sie weiter. Am Tag danach ist Weihnachten, und wir fliegen zurück nach Chicago. Nur, daß ich nicht mitfliegen werde. Ich werde mich direkt an den Pfarrer von St. Clement wenden. Das hätte ich schon vor sieben Jahren tun sollen, anstatt zum nächsten Telefon zu rennen. Ich werde Monsignore Ferris sagen, daß ich die Mutter des Babys bin, und dann werde ich ihn bitten, die Polizei zu verständigen. Ich kann mit dieser Schuld keinen Tag länger weiterleben.

U
    m zehn Uhr am Dienstagvormittag blickte Henry Brown,
    Sachbearbeiter beim Nachlaßgericht in der Chambers Street an der Südspitze von Manhattan, von seinem Schreibtisch auf. »Guten Morgen«, sagte er. Vor ihm stand eine entschlossen wirkende Frau von etwa sechzig Jahren mit rotem Haar und einem leicht vorstehenden Unterkiefer. Als gutem Menschenkenner fielen Henry sofort die kleinen Lachfältchen rings um den Mund der Frau und die Krähenfüße an ihren Augen auf. Seiner Ansicht nach wiesen diese Merkmale auf ein freundliches Wesen hin. Ihre gereizte Miene war offenbar nur vorübergehender Natur.
    Er glaubte zu wissen, wen er vor sich hatte: Eine enttäuschte Verwandte, die das Testament eines Verstorbenen einsehen wollte, der sie enterbt hatte.
    Kurz darauf hatte er zumindest soviel erfahren, daß die Frau tatsächlich vorhatte, ein Testament einzusehen. Allerdings war sie keine Verwandte.
    »Ich heiße Alvirah Meehan«, erklärte Alvirah. »Soweit ich informiert bin, sind Testamente, die angefochten werden sollen, für jedermann einsehbar, und ich habe das Recht, mir ein ganz bestimmtes anzuschauen, wenn ich das möchte.«
    »Das ist richtig«, entgegnete Henry freundlich. »Aber natürlich muß einer unserer Mitarbeiter dabeisein.«
    »Meinetwegen kann mir der ganze Stadtrat über die Schulter gucken«, knurrte Alvirah, aber sie bereute ihre barschen Worte sofort. Schließlich traf diesen hilfsbereiten Sachbearbeiter keine Schuld. Doch sie spürte, daß ihr Zorn wuchs, je näher der Augenblick rückte, in dem sie das Original von Bessies Testament zu Gesicht bekommen sollte.
    Eine Viertelstunde später studierte sie, Henry Brown neben sich, das Testament. »Schon wieder diese Worte«, murmelte sie.
»Wie bitte?«
»Die Worte ›ursprünglicher Charakter‹ stoßen mir einfach auf. Wissen Sie, ich könnte schwören, daß die Dame, die das geschrieben hat, sie in ihren ganzen achtundachtzig Lebensjahren nie benutzt hat.«
»Ach, sie wären erstaunt, wie geschwollen sich manche Leute ausdrücken, wenn sie ihr Testament verfassen«, meinte Henry wohlwollend. »Natürlich unterlaufen ihnen dabei Fehler, weil sie sich in der Juristensprache verheddern.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Aber ich muß sagen, daß ich die Worte ›ursprünglicher Charakter‹ in diesem Zusammenhang auch noch nie gelesen habe.«
Alvirah hörte nur mit halbem Ohr hin, so enttäuscht war sie wegen der Information, daß es als nicht weiter ungewöhnlich galt, wenn jemand in seinem Testament seltsame und manchmal hochgestochene Ausdrücke verwendete. »Und was ist das?« fragte sie. »Schauen Sie sich die letzte Seite an. Das Testament ist bereits

Weitere Kostenlose Bücher